Machtmissbrauch: verbal und emotional!

Na ja …

«Na ja, amerikanische Autoren werden unserem europäischen Kontext nicht wirklich gerecht!» Das höre ich manche sagen, wenn wir über gelesene Bücher zu kirchlichen Themen sprechen. Und ja, ich empfinde oft ähnlich.

Vor kurzem nun habe ich das Buch eines amerikanischen Autors beendet, bei dem ich dachte: «Hat dieser Mann gerade einigen meiner Beratungsgespräche gelauscht?»  

Der besagte Autor namens Michael J. Kruger beschreibt darin nämlich Vorkommnisse im Kontext von Machtmissbrauch, wie sie mir in der Begleitung von Leitern in den vergangenen Monaten und Jahren gleich mehrfach begegnet sind.

Nötigung von der Kanzel

Worum geht es konkret? Das Buch von Kruger heisst: «Bully Pulpit: Confronting the Problem of Spiritual Abuse in the Church”. Frei übersetzt: “Nötigung von der Kanzel: Eine Auseinandersetzung mit religiösem Missbrauch in Kirchen.»

Kruger grenzt sein Thema ein und konzentriert sich weitgehend auf Formen von Machtmissbrauch, wie sie von kirchlichen Leitungspersonen verursacht werden. Obwohl es dabei immer wieder auch um sexuelle Übergriffe und um die Veruntreuung von Geldern geht, geht Kruger auch auf diese Phänomene bewusst nicht näher ein. Ihm geht es um kirchliche Leitungspersonen (insbesondere Pastoren), die gegenüber Mitarbeitenden und Mitgliedern ihrer Kirche leise oder laute Formen von verbaler und emotionaler Macht ausüben.

Konkret?

Durch die Art etwa, wie sie mit kritische Rückfragen reagieren. Auf Widerstand. Auf Störungen. Zu welchen subversiven Mitteln sie greifen, um sich durchzusetzen und vermeintliche Gegner aus dem Weg zu räumen. Dazu gehört diese seltsame Mischung von scheinbar gewinnender Freundlichkeit und unerbittlicher Härte, wenn sich Leiter bedroht fühlen. Kruger analysiert das verbale Arsenal an Rechtfertigungen, Unterstellungen und Verdrehungen von Tatsachen, die dann zum Einsatz kommen.

Damit beschreibt Kruger die in Kirchen am häufigsten vorkommende Form von religiösem Machtmissbrauch. Ihre Verursacher landen kaum je vor einem Gericht, denn sie brechen keine staatlichen Gesetze – wohl aber die Seele von Menschen, die unter die Räder ihrer manipulativen Machenschaften geraten. 

Kruger vergleicht solche Leitungspersonen mit dem Polizisten Derek Chauvin, der 2020 in Minneapolis den Afroamerikaner George Floyd mit seinem Knie auf dessen Hals neun quälende Minuten lang zu Boden drückte – bis er starb. «I can’t breathe» – «Ich kann nicht atmen!» Ich werde diesen verzweifelten Hilferuf nie vergessen. 

Das Problem sind nicht nur einzelne Leitende, die ihre Macht missbrauchen. Das Problem sind die Buddies, die Freunde des Pastors, die Leitungsteams, die nichts dagegen unternehmen.

Warum schreitet keiner ein?

Ohne auf den hier mitspielenden Rassismus näher einzugehen, zeigt nach Kruger anhand dieses Beispiels, was sich in vielen anderen Fällen von Machtmissbrauch wiederholt: Eine Person in einer Machtposition schafft es, einen seinem Schutz anvertrauten Menschen brutal zu behandeln, ohne dass jemand einschreitet. Wie ist das möglich? Filmaufnahmen des Geschehens zeigen den Grund: Es standen vier andere Polizisten daneben, die entweder nichts taten, oder gar mitmachten. Dasselbe geschieht in Kirchen: Das Problem sind nicht nur einzelne Leitende, die ihre Macht missbrauchen. Das Problem sind die Buddies, die Freunde des Pastors, die Leitungsteams, die nichts dagegen unternehmen. Sie misstrauen den vorsichtigen Hinweisen von Betroffenen. Drehen den Spiess um und werfen Opfern ein Autoritätsproblem vor. Schützen die Täter, die doch so viel Gutes tun und Menschen zum Glauben an Christus führen. Und werden damit selbst zu Tätern.

Ich hatte in den vergangenen Jahren vermehrt mit solchen Ereignissen zu tun. In der Schweiz. In Deutschland. Es betrifft uns alle.

Die Stärke des Buches

Kruger beschreibt das Phänomen schonungslos. Er analysiert scharf und leuchtet die damit verbundenen dunklen Manöver schonungslos aus. Erklärt, weshalb oft nichts geschieht – und wenn, weshalb so spät. Er beschreibt, weshalb es selten zu einer guten Form der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen kommt. Welche Mängel im System von Gemeinden verhindern, dass Missbrauchern ein Riegel geschoben werden kann. Und macht Vorschläge, was zu tun ist, damit sich etwas ändert. 

Kruger schreibt klug, praxisnah, theologisch fundiert und fachlich kompetent. Sein Buch gehört in die Hand jedes Pastors, jeder Pastorin und aller Personen, die in der Kirche eine Leitungsaufgabe wahrnehmen. Ich hoffe, es findet sich ein deutscher Verlag, der es übersetzt. Wir haben diese Stimme nötig!

Nicht nur Pastoren, auch Leute der Gemeinde!

Nur eines ging mir am Ende durch den Kopf: Es gibt nicht nur Pastoren, die ihre Gemeindemitglieder missbrauchen. Es gibt auch den umgekehrten Fall, und er ist nicht selten: Gemeinden, die ihre Pastoren missbrauchen. Auch darüber müsste man schreiben. Doch das wäre ein anderes Buch…

Thomas Härry, Dozent, Autor und Berater von Führungskräften.

Thomas ist auf dem nächsten Leitungskongress von Willow mit am Start und wird den Schlussvortrag halten. Ich freue mich schon sehr darauf. Bis zum 31.1. ist eine Anmeldung zu vergünstigten Konditionen möglich. Infos gibt es dazu hier.

Bully Pulpit: Confronting the Problem of Spiritual Abuse in the Church, Michael J. Kruger, 192 Seiten, Zondervan 2022, 25,30 €, eBook: 11,99 €

Über Lothar Krauss

Ehemann | Vater | Pastor | Blogger | Netzwerker
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5 Antworten zu Machtmissbrauch: verbal und emotional!

  1. Mika schreibt:

    Toller Beitrag, der mir aus der Seele spricht. Vielen Dank dafür.

  2. Ingo Scharwächter schreibt:

    Beim Lesen dachte ich die ganze Zeit: Dass gibt es aber auch umgekehrt. Danke, Thomas, dass du das zum Schluss auch aufs Tablett gebracht hast!

  3. Karl-Martin Voget schreibt:

    Was kann man machen, damit das Buch auf Deutsch erscheint?

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