Wenn Schwäche stark macht – Wie Opferrollen unsere Gesellschaft verändern

Foucault – »Wie funktioniert Macht?«

Auf dem Blog habe ich über die Jahre einiges zur Frage nach dem guten Gebrauch von Macht gepostet, bin der Frage nach einem Missbrauch von Macht etwas nachgegangen und habe mich immer wieder dafür eingesetzt, dass es einen legitimen Gebrauch von Einfluss geben muss, will man dem Missbrauch von Einfluss Grenzen setzen. Dabei denkt man vor allem die Mächtigen, Dominanten, Starken …

Im Nachdenken bin ich dann auf die Arbeiten von Michel Foucault gestoßen, der die Mechanismen einer Disziplinierung der Mehrheitsgesellschaft durch die Opferinszenierung des Schwächeren aufgreift. Er spricht von Menschen, die ihre Vulnerabilität öffentlich ausstellen und mit der wehrlosen Empathie der Vielen spielt. 

Michel Foucault war – vereinfacht gesagt – weniger an der Frage „Wer hat Macht?“ interessiert als an „Wie funktioniert Macht?“.

Er verstand Macht nicht als Besitz einzelner, sondern als Beziehungsgeflecht: Macht wirkt überall, durch Sprache, Institutionen, Diskurse, soziale Erwartungen.

In seinen späteren Schriften beobachtete Foucault, dass Macht nicht nur von oben nach unten ausgeübt wird (z. B. durch Herrscher, Staaten oder Kirchen), sondern auch von unten nach oben oder seitlich, in alltäglichen sozialen Dynamiken. Und genau da kommt die Beobachtung ins Spiel – das, was als „Opferinszenierung des Schwächeren“ zu bedenken ist.

Foucault selbst formuliert das nicht ganz so zugespitzt, aber er legt den Grundstein für dieses Denken. Hier ein paar Streiflichter meiner Reflexionen:


„Die Macht der Schwäche ist real. Sie wirkt nicht durch Zwang, sondern durch Gefühle – und sie verändert, wie wir miteinander umgehen.“


Empathie ist eine Stärke.

Doch was passiert, wenn Mitgefühl zur moralischen Währung wird – und wer sich als Opfer zeigt, die Richtung der öffentlichen Meinung vorgibt?

Ein Blick darauf, wie die Macht der Schwäche unsere Gesellschaft formt – und was wir daraus lernen können.


Ein neues Ideal: Verletzlichkeit

Früher galt Stärke als Tugend: Standhaftigkeit, Mut, Selbstbeherrschung. Heute gewinnen oft diejenigen Gehör, die ihre Verletzlichkeit zeigen. Das ist zunächst etwas Gutes – eine Gesellschaft, die Leid sieht, beweist Mitgefühl.

Aber: In dieser neuen Empathiekultur steckt auch eine versteckte Dynamik.
Wer sich als Opfer präsentiert, kann damit Einfluss nehmen – auf Sprache, Haltung und sogar auf politische Debatten.


Wenn Mitgefühl Macht verleiht

Wer öffentlich sein Leiden zeigt, ruft Mitgefühl hervor. Das ist menschlich und oft heilsam.
Aber Mitgefühl schafft auch moralische Autorität:

Man wagt kaum, einem Opfer zu widersprechen, ohne kalt oder unsensibel zu wirken. So entsteht eine neue Art von Macht – nicht durch Lautstärke oder Status,
sondern durch Unantastbarkeit.

Das Opfer wird zur moralischen Instanz:
Es sagt, was richtig ist; die anderen hören zu, entschuldigen sich oder schweigen lieber.


Michel Foucault hätte das spannend gefunden

Der französische Philosoph Michel Foucault beschrieb einmal, dass moderne Macht nicht mehr mit Zwang arbeitet, sondern mit Selbstkontrolle.

Wir passen uns an, weil wir wissen, dass wir beobachtet werden – und weil wir dazugehören wollen.

Heute beobachten wir uns moralisch:
Wir achten auf Sprache, Ton und Haltung, um niemanden zu verletzen. Nicht Staat oder Kirche kontrollieren uns – sondern die öffentliche Empfindlichkeit.

Das Opfer steht im Zentrum des Blicks –
und dieser Blick diszipliniert die Gesellschaft.


Empathie – Segen und Herausforderung

Empathie hält unsere Gemeinschaft zusammen. Aber wenn sie zur Pflicht wird, kann sie ersticken. Dann geht es nicht mehr um echtes Verstehen, sondern nur noch darum, das richtige Gefühl zu zeigen.

Opferstatus wird so zur Ressource:
Er bringt Aufmerksamkeit, Schutz und moralisches Gewicht. Und wer nicht empathisch genug reagiert, steht schnell am Rand der Gemeinschaft.

Das kann den offenen Diskurs hemmen –
gerade dort, wo ehrliches Ringen um Wahrheit nötig wäre.


Was das für uns heißt

Empathie ist unverzichtbar – aber sie darf nicht zur Waffe werden. Wir brauchen sie als Brücke, nicht als Bollwerk.

Nicht jedes Leid sollte zur Regel werden,
wie andere zu sprechen oder zu denken haben.

Die Kunst liegt darin, Mitgefühl und Freiheit zu verbinden. Nur dann bleibt Empathie menschlich – und unsere Gesellschaft offen für Vielfalt und Widerspruch.


Fazit: Die Macht der Schwäche verstehen

Wir erleben eine neue Form der Macht – die Macht der Schwäche. Sie wirkt nicht durch Gewalt, sondern durch Gefühle.
Sie kann Gemeinschaft stiften – oder Diskussionen verengen.

Wer Verantwortung trägt – ob im Ehrenamt, Kirche oder Beruf – sollte diese Dynamik kennen.

Denn sie entscheidet mit darüber, wie wir miteinander reden, streiten und verzeihen.

Empathie bleibt ein Geschenk – aber sie entfaltet ihre Kraft nur dort, wo sie Raum lässt für unterschiedliche Stimmen.

Was sind deine Gedanken, Erfahrungen, Einschätzungen … dazu?

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About Lothar Krauss

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2 Responses to Wenn Schwäche stark macht – Wie Opferrollen unsere Gesellschaft verändern

  1. Avatar von Matthias Czepl Matthias Czepl sagt:

    Lieber Lothar,
    dieser Artikel ist echt klasse und hilft mir … und by the way … ist Dir aufgefallen, dass die heutige politische Situation in z.B. Deutschland, Frankreich, Amerika auf diesen Machtmissbrauch zurückzuführen sind (meiner bescheidenen Meinung nach) …

  2. Avatar von unique3263909d71 unique3263909d71 sagt:

    Zu diesem Thema gibt es ein Buch von Allie Beth Stuckey „Toxic Empathy: How Progressives Exploit Christian Compassion“

    Ich kenne es nicht, noch nicht, aber was ich von ihr in letzter Zeit gehört habe, klang sehr gut.

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