Raus aus der Opferrolle!

Voller Einsatz für den Herrn und dann die Enttäuschung – in den ersten Jahren meines Pastorendienstes hätte ich manchmal am liebsten hingeschmissen. Doch dann wurde mir klar, dass ich einen konstruktiven Umgang mit schwierigen Erfahrungen finden muss.

Das Hauskreis Magazin hatte mich um einen Beitrag für ihre Serie Das würde ich heute anders machen – Was Leitende aus Fehlern gelernt haben gebeten. Das war eine spannende Reflexion für mich. Tja, was hätte ich gerne schon vor 35 Jahren als Leiter gewusst und gleich anders angepackt? Hier kommt mein Learning:

Das hätte ich wissen sollen …

„Erfahrung ist das, was man hat, nachdem man es gebraucht hätte!“

Zum ersten Mal habe ich den Satz vor 40 Jahren gehört: „Erfahrung ist das, was man hat, nachdem man es gebraucht hätte!“ Wie oft musste ich an ihn denken! 1983 begann mein Weg als Verantwortlicher. Erst in einer kleinen Gemeinde für ein paar junge Leute. Dann als Jugendpastor einer wachsenden dynamischen Gemeinde. Dabei machte ich Erfahrungen, die mich kalt erwischten, und die mich fast rausgekegelt hätten. Irgendwann wollte ich nicht mehr. Das, was ich mit anderen Menschen erlebte, verletzte mich.

Enttäuscht und allein gelassen!

Als ich begann Verantwortung zu übernehmen, investierte ich mich voller Leidenschaft und Hingabe. Es dauerte nicht lange, bis sich diese Erfahrung einstellte, die ich in diesem Ausmaß nicht erwartet hatte: ich wurde verletzt, enttäuscht und entmutigt. Menschen, die mit mir voller Idealismus gestartet waren, versetzten mich. Sie ließen mich hängen, setzten andere Prioritäten und standen nicht zu ihrem Wort. Ich kann mich noch an ein Renovierungsprojekt in einer Gemeinde erinnern, das wir zusammen geplant und dann tatkräftig angepackt hatten. Nach kurzer Zeit stand ich fast allein da. Der Tiefpunkt war ein Samstagnachmittag, an dem keiner mehr kam. Die Räume mussten für die Kinder am Sonntag wieder nutzbar sein, und ich stand jetzt allein mit der Restarbeit. Frustriert erledigte ich sie. Am nächsten Morgen, im Anschluss an den Gottesdienst, redeten dann die Männer der Gemeinde über ihren tollen Ausflug, den sie gemeinsam am Samstag unternommen hatten. Ich war wie gelähmt und maßlos enttäuscht. Ich fühlte mich abgelehnt, allein gelassen und ausgenutzt. Frust, Wut und Selbstmitleid stiegen in mir auf. Überrascht bemerkte ich aber auch gleichzeitig ein paar stolze Gedanken und eine Überheblichkeit in mir, wenn ich an die anderen Männer dachte! Also ich war zuverlässig, fleißig und treu! Und sie? 

Mein Gegner: Selbstmitleid 

Das Selbstmitleid blieb das stärkste Gefühl: „Armer Lothar!“ Die Opferrolle begann meine Werte in eine Schieflage zu bringen: „Was ihr könnt, das kann ich auch. Ihr werdet schon sehen, wo ihr bleibt und was aus der Kirche wird, wenn ich das jetzt auch so mache …!“ Ich zog mich innerlich zurück. Verletzt, stolz, beleidigt und verärgert. Zorn stieg in mir auf. Im Gespräch mit Gott und Seelsorgern musste ich mir diese Fragen gefallen lassen: Für wen war ich eigentlich in die Rolle des Leiters geschlüpft? Für mich, mein Ego oder meine Karriereträume? Wollte ich Menschen beeindrucken, ihnen gefallen, um von ihnen zu hören, wie toll ich doch bin? Wollte ich Menschen, mit denen Gott seine Geschichte schreibt, dienen? Oder wollte ich mich in Wahrheit nur selbst verwirklichen und war deshalb jetzt verletzt, weil die Leute nicht mitzogen? Diese Fragen, mitten im Selbstmitleid, waren nicht einfach für mich. Im Gegenteil: sie machten mich zornig! Ich gebe mein Bestes und werde jetzt auch noch in Frage gestellt. Vielen Dank auch! Ich habe es doch nur gut mit allen gemeint. Oder doch nicht?

So konnte ich nicht leiten!

Es war hart für mich zu erkennen, dass ich so nicht leiten konnte. Das würde ich auf der Langstrecke nicht durchhalten. Unweigerlich würde ich bitter, zynisch und letztlich gleichgültig werden. Ganz gleich, wie berechtigt mein Frust und manche Kritik an anderen auch war, so konnte es nicht laufen. Irgendwann dämmerte es mir: „Lothar, du musst auf den Fahrersitz zurück. Du darfst anderen Menschen nicht so eine Macht über dich geben. Sie müssen dich nicht gut finden.“ Galater 1,10 wurde mir zur Mahnung: „Kläre, wem du gefallen willst!“ Mir wurde klar: „Wenn du fröhlich und vollmächtig leiten willst, dann musst du dich selbst ehrlich und gut leiten: geh auf den Fahrersitz, übernimm Verantwortung für dich selbst unter der Leitung des Heiligen Geistes. Gib Selbstmitleid, Verletzungen und Enttäuschungen nicht diese Macht über dich, auch wenn es sich im Moment emotional gerade besser anfühlt. Gib Menschen nicht die Macht über dich, weil sie dich ablehnen, allein lassen oder bekämpfen. Sei realistisch! Es wird immer Leute geben, die mit dir als Person und mit dem, was du tust, nicht glücklich sind.“ Schon der Apostel Paulus erlebte das in Korinth.

Bei Dr. Henry Cloud fand ich später Worte dafür, was ich in meinem Alltag als Verantwortlicher immer wieder bedenken musste. Ich lese sie – bis heute – ganz oft:

“Successful people realize that just because someone is unhappy with them does not require that they give up their purpose or fold their cards. They realize that making some people unhappy is just part of the deal, and they keep going.”

Dr. Henry Cloud

Nun stand ich vor der Entscheidung: würde mich weiterhin dem Selbstmitleid hingeben, oder würde ich mich von Gottes Ja zu mir als Person und seinem Auftrag an mich leiten lassen und diesen „Part des Deals“ akzeptieren?

Quellen meiner Identität 

Irgendwann auf dem Weg wurde mir klar, dass am Ende nicht die Frage zählt, was ich als Verantwortlicher alles geleistet und erreicht hätte und wie ich in den Augen anderer dastand. Die eigentliche Frage im Finale ist eine andere: Wer bin ich geworden? Ist Gott die Quelle meiner Identität? Jesus als den einen Herrn zu haben, wurde mir auch praktisch zum Weg, um von den anderen Herren loszukommen. Auch von der unaufhörlichen und selbstschädigen Kritik meines Egos. Am Ende bleibt für mich die Frage, wer die Macht über mich haben soll. Das ist die entscheidende Frage meiner Identität! 

Und heute?

Gott kommt mit mir klar, auch wenn ich immer wieder neu mit diesen Fragen ringen muss. Ich gehe davon aus, dass der Kampf bis zum letzten Atemzug ausgefochten wird. Noch immer ist die Opferrolle verlockend. Gerade in Zeiten der Enttäuschung, die weiterhin zu meinem Leben als Verantwortlicher gehören. Ich muss deshalb aufmerksam bleiben und mich immer wieder neu entscheiden: möchte ich meiner Berufung treu sein und dranbleiben? Möchte ich Freunde und Begleiter in meinem Leben zulassen und sogar suchen, mit denen ich offen auch diese Seite meiner Seele anschauen kann? Das ist kein Zeichen der Schwäche. Das ist echte Stärke. Gerne hätte ich das früher gewusst. Vor allem verstanden.

Und hier der Beitrag als O-Ton, locker erzählt …

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About Lothar Krauss

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3 Responses to Raus aus der Opferrolle!

  1. Avatar von janluebker janluebker sagt:

    Danke Lothar, deine Ehrlichkeit tut immer wieder gut!

  2. Avatar von Falk Hatzfeld Falk Hatzfeld sagt:

    Danke Lothar,
    schon oft habe ich ehrliche und auf den Punkt gebrachte Artikel von Dir gelesen. Ich bin kein Pastor sondern Führungskraft in der Wirtschaft (Medizintechnik Entwicklung) und kann sagen – für mich kein Unterschied in der Betrachtung. Und so manches Mal habe ich gemerkt, wie die Entmutigung gelähmt hat. Jetzt, etwas reflektierter in den 50ern, plane ich das schon ein, dass es Gegner, Abspringer, .. geben kann.
    Liebe Grüße
    Falk

  3. Avatar von Matthias Reinartz Matthias Reinartz sagt:

    Danke, Lothar – wieder ein richtig guter und wichtiger Beitrag!

    Eine Ergänzung aus meiner Perspektive, die ich ebenfalls wichtig finde: Ich verstehe Dich so, dass Du am Ende „Raus aus der Opferrolle“ mit „An der Berufung dranbleiben“ kombinierst. Für mich hieß aber „Nicht in die Opferrolle zu rutschen“ meine Berufung als Pastor (zunächst?) aufzugeben. Mir war wichtig: Ich möchte eben kein Opfer sein, sondern selbstbestimmt handeln. Da mein weiterer Weg innerhalb der Gemeinde aber von außen verbaut wurde, war es nicht möglich, die Berufung in dieser Gemeinde weiter zu leben. Rein Arbeitsrechtlich hätte ich bleiben können, aber ich wäre wohl recht fremdgesteuert gewesen, was mich in meine Opferrolle gebracht hätte. In Gesprächen mit meinem Mentor haben meine Frau und ich zudem die Entscheidung getroffen, unserer Kinder zuliebe hier vor Ort zu bleiben und nicht umzuziehen, um in eine andere Gemeinde zu wechseln. So habe ich ganz selbstbestimmt die Pastorenberufung zur Seite gelegt und als selbst Gestaltender meine Zukunft in die Hand genommen. Was extrem schwer war …. An der Berufung dranbleiben hätte aber in dem Moment selbstzerstörerische Konsequenzen gehabt.

    Ich finde das wichtig, weil das „Dranbleiben“-Credo, die „Keine Kompromisse“-Rufe, das „Nicht aufgeben“-Wollen meiner Meinung nach unter Pastoren im Allgemeinen nicht in einer gesunden Balance zum „Ruhe“-Finden und „Sich selbst nicht zu wichtig“-Nehmen steht.

    LG, Matthias

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