Machtmissbrauch in intensiv evangelischen Gemeinschaften, freien Gemeinden und Werken? In charismatischen Gruppen, die es besonders ernst meinen und sich so sehr wünschen, Gottes Wirken zu erleben. Die Berufungen fördern wollen und in deren Mitte Menschen „geistliche Karriere“ machen. Dabei zu toller Anerkennung und Ehrung kommen, gefeiert und bewundert werden? Passiert das? Ein sensibles, kritisches Thema, das nicht im „Hinterzimmer“ verhandelt werden darf. Jana Schmidt (Pseudonym) erzählt ihre Geschichte, die Verantwortliche unbedingt hören und bedenken müssen. Warum?
Machtmissbrauch im aufrichtigen Umfeld!
Weil der Missbrauch von Macht von Beginn an auch ein Teil der Geschichte der Kirche ist. Gerne wird das im Blick auf die organisierte Religion festgehalten: die römisch-katholische Kirche. Evangelische Kirchen. Orthodoxe Kirchen. Auch traditionelle Freikirchen, Gemeinschaften und Gemeinden geraten ins Fadenkreuz. Aber bei geistlichen Gemeinschaften, die einen Aufbruch erleben, die Gottes Wirken wirklich suchen und dabei ernsthaft und aufrichtig unterwegs sind?
Ja, auch (und gerade auch?) da!
Woran liegt das? Führungspersönlichkeiten, mit einem blinden Fleck für die eigenen Defizite und Brüche im Leben mitbringen? Defizitäre Nachfolger, die starke Führungspersonen suchen? Ungesunde Lehre? (2. Tim. 4,3, 1. Tim 1,10). Manchmal auch falsche Lehre? Eine Mischung aus diesen Zutaten führt zu ungesunden Strukturen in den Gemeinschaften, die von allen Beteiligten zunächst gefeiert werden. Mit dieser ungesunden Lehre wird der Aufbau und die Struktur begründet. Autorität – bei den Verantwortlichen. Unterordnung – bei den Nachfolgern. Man will Gott ehren, indem man sich unterordnet, einordnet, folgt und dient. Zum Teil kommt es zu einer ungesunden Kultur der Ehre, von der vor allem die Leiter profitieren und die Missstände schützt. Richtiges in der falsches Dosis, könnte man sagen. Oft ist das alles sehr einseitig. Oder zum falschen Zeitpunkt in falscher Dosis.
Wie immer gilt auch hier der Lehrsatz von Paracelsus:
„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.
Schon die ersten Jünger von Jesus …
… diskutierten darüber, wer der Größte unter ihnen sei. Also der Mächtigste, Einflussreichste. Aber auch der Wichtigste – die Frage nach der eigenen Identität! Rechts und links von Jesus sitzen. Manche Mütter wünschen sich für ihre Kinder eine tolle Karriere. Auf „auf geistlich“ gibt es das! Sie diskutieren ihre Ambitionen in der Gegenwart von Jesus! In der Gegenwart von Gott! Es gibt offenbar nichts, was es nicht gibt. Das muss uns zu denken geben.
Die Dosis birgt die Gefahr. Leitung ist nötig, sinnvoll und eine Gabe des Heiligen Geistes (Römer 12,8; 1. Kor. 12,28). Doch schnell kann die Rolle von Leitern und Leiterinnen überhöht werden. Durch „geistliche Prinzipien und Ordnungen“, die man biblisch (oft alttestamentlich) stützt und verteidigt. Es klingt gut. Richtig. Von Gott gegeben. Geistlich. Wir wollen es nicht so machen, wie es in „in der Welt“ üblich ist. Redet nicht auch Jesus davon? (Markus 10,42). Eine klare Fälschung ist schneller zu entlarven, als das bei einer guten Kopie der Fall ist. So wirkt ungesunden Lehre. Zunächst unverdächtig, wie eine gute Kopie. Erst über Zeit wird die Unwucht deutlich, das man Betrügern auf den Leim gegangen ist.
Leben wecken!
Dabei entsteht eine Gemeinschaft unter der Hand, die nicht das Leben aufblühen lässt, Menschen fördert und gesund voranbringt, sondern schadet! Genau das Gegenteil passiert auf der Langstrecken: Menschen „verwelken“, gehen ein und sind am Ende ein Frack! Glaubenssysteme, Inhalte und Strukturen, die letztlich krank machen? Alle, die leitende Verantwortung tragen, gerade auch in Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften, müssen alarmiert sein. Und das nicht erst seit dem Podcast Toxic Church, der wichtige Fragen zur Sprache brachte, auch wenn die journalistische Arbeit hätte gründlicher ausfallen dürfen.
Janas Geschichte
Da setzt nun Janas Geschichte an. Sie macht betroffen. Erschüttert. Gibt Einblicke, die jeder in Verantwortung einmal lesen sollte. Wir (er)leben in der offenen, aber nicht reißerischen Schilderung ihren Weg mit. Sie schreibt so frisch, offen und als Leser merkt man, dass Jahre der Verarbeitung dazwischen liegen. Das tut dem Buch gut. Es will nicht angreifen oder bloßstellen, sondern aufzeigen. Es bringt auf gute Art etwas Wesentliches zur Sprache. Das ist eine der großen Stärken des Buches. Sie schildert ihre Erfahrungen und reflektiert ihre Gedanken und Gefühle. Das ist sehr hilfreich. Und wirft Fragen auf: Warum ist sie da eingestiegen und warum so lange dabeigeblieben? Sie gibt uns wertvolle Einblicke und spannende Antworten. Warum konnten Verantwortliche solange so agieren? Warum hat niemand eingegriffen? 224 Seiten, die uns tief mitnehmen.
Schon nach wenigen Seiten ist mir klar, von welcher Gemeinschaft hier geschrieben wird. Ich kenne die Protagonisten. War mit ihnen vor 30 Jahren unterwegs. Habe die Ansätze miterlebt, mich dann zurückgezogen. Freunde von mir waren Teil der Gemeinschaft. Janas Schilderungen decken sich mit dem, was ich von ihnen, und über sie von etlichen anderen auch gehört habe. Es ist gruselig, was da im Namen Gottes passierte, wie Luitgards Parasie in ihrem Statement im Buch festhält. Und ja, da wäre auch Gutes zu berichten. Aber nichts von dem, was auch positiv ist, rechtfertigt oder entschuldigt auch nur im Ansatz, was Jana, und mit ihr auch viele andere, erlebten.
Martina Kessler, die den Arbeitskreis der Deutschen Evangelischen Allianz zum religiösen Missbrauch leitet, kommentiert jeweils das Erlebte und ordnet es ein. Das ist zumeist hilfreich, an wenigen Stellen aber auch unscharf. Das liegt daran, das der Grat zwischen Medizin und Gift so eng ist. Wenn sie Formulierungen wie „ganz für Gott leben“ oder „keine Kompromisse mit der Welt“ zu machen kritisch einordnet, ist das auf der Basis der Story von Jana verständlich, aber als eine allgemeine Feststellung doch nicht ganz glücklich. Insgesamt tut das dem Buch aber keinen Abbruch und viele Einordnungen, die als Einrückungen erkenntlich sind, helfen gut.
So eine Gemeinde, Gemeinschaft … wollen wir nicht bauen. Dürfen wir nicht bauen. Wer daran Interesse hat und verstehen will, wo man falsch abbiegen kann, sollte das Buch zur Hand nehmen. Wir wollen gesunde Gemeinden bauen, die Menschen zur Reife führen. Wer das als Leiterin und Leiter so eine Gemeinde, Gemeinschaft bauen möchte, darf deshalb die Augen vor diesen Gefahren nicht verschließen, die Jana schildert.
Das Buch gehört in eure Hände!
Das Buch gehört in eure Hände, ihr lieben Leser des Leiterblogs. Es ist wie ein Perspektivwechsel. Als Verantwortliche wollen wir unsere Sache gut und auch richtig machen. Und doch sind wir gefährdet: Denn aus unserer Perspektive der Verantwortung erscheint uns manches stimmig, konsequent und auch nötig. Doch ist es das auch am „Ende des Tages“? Das beschäftigt uns, oder?! Aber es ist nicht selbstverständlich. Deshalb ruft eine Story wie die von Jana, – nein, es schreit sogar – nach Reflexion. Dazu hilft der Band. Und es gehört auch in die Hände von Christen, die mit Leidenschaft und Hingabe sich einbringen. Auch sie haben einen Anteil am gesunden Bau der Gemeinschaft!

- Sie predigten Wasser und tranken Wein
- Jana Schmidt, Martina Kessler
- SCM Hänssler, 17,00 €, 224 S.

