Leiterinnen und Leiter kämpfen immer wieder mit Ängsten. »Einige der größten Leitungsfehler geschehen dort, wo Leitende bewusst oder unbewusst angstgesteuert agieren.« schreibt Thomas Härry in seinem sehr empfehlenswerten Buch Die Seele des Leitens.
Wer Angst hat, macht Angst. Und diese Angst verursacht Stress. Wer aber Stress hat, der macht Stress, meint Härry. Und damit liegt es auf der Hand, dass Menschen in Verantwortung, also Leute mit Einfluss, eine gute Selbstreflexion brauchen, um nicht angstgesteuert ihrer Führungsaufgabe nachzukommen. Schauen wir genauer hin:
Ansteckungsgefahr!
Angst ist infektiös. So wichtig, dass sich Führungskräfte dessen bewusst sind und sich deshalb davor schützen. Alles beginnt mit einer guten Sachkenntnis der Lage. Dabei ist das neue Buch von Thomas Härry eine wertvolle Hilfe. Härry schreibt:
»Nun geschieht es aber oft, dass Leitungspersonen sich von der Angst ihrer Mitmenschen anstecken lassen, statt ihr auf reife Art und Weise zu begegnen. Sie lassen es zu, dass sie auf sie überspringt. Angst ist wie ein ansteckender Virus. Wenn er mich als Leiter erfasst, dann bekomme ich selbst auch Angst. Angst vor dieser Person, die so viel Druck macht. Angst vor den von ihr verbreiteten Schreckensszenarien. Angst davor, als Versager, Schwächling oder Sturkopf dazustehen, wenn ich nicht so auf ihre Ängste reagiere, wie sie es von mir möchte. Wenn das passiert, dann wird mein eigenes Handeln genauso von Angst gesteuert. Dann reagiere ich reaktiv.«
Die größten Leitungsfehler …
Er fährt fort und stellt die These auf, dass einige der größten Leitungsfehler dort geschehen, wo sich Leitende bewusst oder unbewusst von dieser Angst steuern lassen.
Aus seinen Beratungen mit kirchlichen Führungskräften sind 5 Szenarien für Verantwortliche in der Gesamtleitung einer Gemeinde besonders belastend: »Wenn das geschieht, neigen sie mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer der folgenden Reaktionen:
- Leute verlassen meine Kirche oder Organisation. Das setzt mich unter Druck. Ich muss alles tun, um das zu verhindern. Also passe ich mich den vorhandenen Erwartungen an. Oder verurteile diejenigen scharf, die von Bord gehen.
- Jemand hinterfragt meine Führungsautorität. Ich muss deshalb mit Härte gegen diesen Aufstand vorgehen (manche Leitenden sprechen dann von einem dahintersteckenden bösen Geist, den es auszutreiben gilt).
- Es fehlt an Finanzen, die Spenden sind knapp. Ich muss deshalb in meinen nächsten Predigten all die Bibelstellen zitieren, in denen Menschen zu großzügigem Spenden aufgefordert werden. Je größer das Finanzloch, umso gerechtfertigter ist es, dass ich es mit Leidenschaft und Nachdruck tue, damit die Leute in die Gänge kommen.
- Es fehlen ehrenamtliche Mitarbeitende. Ich muss alle Hebel in Bewegung setzen und dabei in Kauf nehmen, dass manche Aufgaben von Personen wahrgenommen werden, die dafür kaum Fähigkeiten mitbringen. Hauptsache, der Kindergottesdienst geht nicht ein.
- Im Nachbarort wird gerade eine neue Jugendkirche gegründet. Ich muss die Jugendlichen in meiner Gemeinde davon abhalten, dort hinzugehen. Ich muss warnen. Oder mich künftig auch so hip geben wie die Leiter dieser Neugründung.
»Es ist leicht, Leitende zu verurteilen, die so handeln. Ehrlicher wäre zu sagen, dass jede bedrängte Führungskraft zu angstgesteuerten Handlungen neigt. Ihr Grundempfinden ist oft: »Ich muss unbedingt …, damit nicht …!« Also: »Ich muss verhindern, sicherstellen, eingreifen, durchgreifen, Dampf machen, damit mir die Dinge nicht entgleiten!« Eine solche Leitungsperson muss irgendeine Katastrophe verhindern. Getrieben von den damit verbundenen Befürchtungen neigt sie zu unreifen Handlungen, welche die Situation eher verschärfen, als dass sie sie lösen.«
Was Verantwortliche weiter Angst macht: The Big Six

Neben diesen recht konkreten Anlässen, stellt Thomas unter anderem sechs Auslöser chronischer Angstzustände in Gruppen vor, die er von dem Berater und Therapeuten Peter L. Steinke aus seinem Buch Uproar übernommen hat. Steinke nennt sie The Big Six, »die großen Sechs«. Sie müssen direkt mitgedacht werden, wenn wir als Leitende in die Selbstreflexion gehen.
- Störungen und Unterbrechungen
Menschen fühlen sich gestört, wenn in ihrem Umfeld plötzliche Veränderungen eintreten. Wenn sie Verlust erleiden, weil zum Beispiel eine geschätzte Leitungsperson die Organisation verlässt. Oder wenn andere kritische Ereignisse eintreten: ein schwerer Krankheitsfall bei einer Schlüsselperson. Ein neuer Leiter, der vieles auf den Kopf stellt. Wenn ein Konflikt aufflammt, der sich nicht sofort lösen lässt. Wenn langjährige Mitglieder frustriert die Gemeinde verlassen. Wenn gravierende Neuerungen eingeführt werden (Gottesdienstformen, Führungsstruktur, Aufgabenverteilungen …).
- Das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht
Hilflosigkeit entsteht, wenn Menschen sich wie in einer Falle fühlen. Wenn sie das Gefühl haben, an einer unerwünschten Situation nichts ändern zu können. Wenn sie sich angesichts unliebsamer Umstände machtlos fühlen.
Dieses Gefühl kann zum Beispiel aufkommen, wenn die Leitung einer Organisation tief greifende strukturelle oder strategische Änderungen einführt, ohne vorher Rücksprache mit den Mitarbeitenden oder Mitgliedern genommen zu haben. Wenn Mitglieder immer wieder auf Missstände in einem Bereich oder auf der Führungsebene hinweisen, dort aber auf taube Ohren stoßen. Ohnmacht und Hilflosigkeit machen sich auch dort breit, wo sich jemand lange gegen eine bestimmte Entwicklung (oder auch eine Person) gewehrt hat, am Ende aber unterliegt. Auch hier entsteht aufgrund der gefühlten Unterlegenheit ein Angstzustand, der ein Ventil sucht.
- Bedrohung
Bedrohung kann real sein oder eingebildet. Es ist die Angst vor möglichem physischem oder seelischem Schaden; vor Leid und Verletzung.
Bedroht fühlen können sich angestellte Mitarbeiter, denen man mit Kündigung droht. Oder eine Gemeinde, die innerhalb kurzer Zeit viele Mitglieder verliert. Oder eine von Unterstützern abhängige Organisation, die über längere Zeit hinweg einen massiven Spendeneinbruch erlebt. Dann sind ganze Programme und damit verbundene Stellen infrage gestellt. In anderen Fällen entsteht eine Bedrohung durch dominante Führungspersonen, die sich wortgewandt und mit Schläue durchzusetzen vermögen, während andere das Nachsehen haben. Sie entsteht durch offen oder verdeckt ausgesprochene Drohungen von Kollegen, Vorgesetzten oder freiwilligen Mitarbeitenden.
- Meinungsverschiedenheiten
Manche Menschen entwickeln Ängste, wenn gegensätzliche Meinungen aufeinanderprallen. Wenn sie mit Gedanken und Aussagen konfrontiert sind, die für sie neu und ungewohnt sind. Wenn in einer Gruppe unterschiedliche Werte oder Glaubensvorstellungen auftauchen und eine Spannung verursachen.
In Kirchen kann es um theologische Meinungsverschiedenheiten gehen. Wenn man sich etwa uneins darüber ist, wie manche Aussagen der Bibel heute verstanden und angewendet werden sollen. Lassen sich Glaube und Homosexualität vereinbaren oder nicht? Dürfen Christen ein SUV fahren oder nicht? Wie steht es mit Scheidung und Wiederheirat? Die Liste möglicher Kontroversen ist lang … Zu Meinungsverschiedenheiten kann es auch auf ganz anderen Ebenen kommen: wenn es um unterschiedliche Vorstellungen geht, wie geführt werden soll (kurze oder lange Leine?), wie die strategische Ausrichtung einer Organisation aussehen soll, wie Finanzen verwendet und welche Mitarbeitenden bestimmte Aufgaben wahrnehmen sollen etc.
- Unsicherheit
Menschen entwickeln Ängste, wenn Probleme sich über eine längere Zeit hinweg nicht lösen lassen. Wenn Finanzen fehlen, wenn Stellen nicht besetzt werden. Wenn es Unklarheit über den nächsten Schritt gibt. Wenn nicht vorhersehbar ist, welche Folgen eine Entscheidung hat. Wenn Zweifel gestreut werden. Wenn eine Sache nicht klar, sondern mehrdeutig ist.
In Kirchen, aber auch in anderen Organisationen sind es vor allem zwei Vorkommnisse, die in der Regel eine Phase der Unsicherheit auslösen: wenn eine geschätzte, breit akzeptierte Führungsperson nach jahrelanger Tätigkeit die Organisation verlässt und noch nicht klar ist, wie es unter ihrem Nachfolger weitergehen wird. Oder wenn bei großen, kostspieligen Bauvorhaben die Finanzierung über eine längere Zeit unsicher bleibt.
- Erschöpfung
Menschen bekommen Angst, wenn auf lange Sicht wichtige Ressourcen fehlen. Wenn es an Geld mangelt, an Mitarbeitenden, an Führungskräften. Wenn Menschen sich verausgaben und sich dennoch keine Lösung abzeichnet. Wenn die Bemühungen für eine Sache langfristig keinen Erfolg zeigen.
Erschöpfung macht sich auch dort breit, wo einer der gerade beschriebenen Auslöser lange anhält und die Menschen ermüden: wenn zu lange alles unsicher ist, wenn die Meinungsverschiedenheiten nicht aufhören, wenn sich ständig alles ändert, wenn zu bestehenden Momenten der Ohnmacht neue hinzukommen – dann laugt dies Menschen und ganze Organisationen aus. Ermüdung kann auch dort eintreten, wo in einem Verein oder in einer Kirche wenige Leute die Hauptlast stemmen, während andere sich bedienen lassen und sich selbst kaum einbringen. Manchmal liegt das Problem auch bei der engagierten Person selbst: Sie kann nicht Nein sagen oder definiert sich über ihre Nützlichkeit. Sie schafft es nicht, sich abzugrenzen.
Ganz schön guter Stoff zur Selbstreflexion, oder? Auch geeignet, um mit Deinem Coach gemeinsam drauf zu schauen. Thomas zeigt in seinem Buch Wege auf, wie wir uns unseren Ängsten stellen und Perspektiven finden, mutig und gelassen, trotz der Herausforderungen unserer Leitungsaufgabe zu leben.
Hintergrund zum Buch
Der Ausgangspunkt des Buches ist ein Vortrag, den Thomas Härry auf dem Willow Creek Leitungskongress 2022 gehalten hat. Die Zuhörer waren begeistert und gaben ihm Bestnoten in der Auswertung. Das wollte vertieft werden. Die Seele des Leitens ist das Ergebnis. Thomas Härry hat noch einmal sehr gründlich weitergegraben und teilt seinen Schatz zwischen diesen beiden Buchdeckeln auf 160 Seiten. Eine Fülle von Impulsen, Edelsteinen, Schätzen findest du dort!

Ich danke dem Verlage für die freundliche Erlaubnis, daraus die Passagen für den Blogpost zu nehmen.
Der nächste Leitungskongress von Willow Creek ist im März 2024. Bis zum 30. September gilt der günstige Frühbucherpreis.
- Die Seele des Leitens
- Thomas Härry, SCM R.Brockhaus
- 160 Seiten | 17.00 €
- Leseprobe

