Freikirchen müssen „im Kopf umparken“! (1)

Davon sind die Professoren Philipp Bartholomä und Stefan Schweyer überzeugt, nachdem sie die freikirchliche Szene wissenschaftlich im Blick auf die Frage nach der missionarischen Wirksamkeit von Freikirchen im Land durchleuchtet haben.

„Umparken im Kopf“, das ist mehr als ein neues Programm, ein neuer Stil oder neue Methoden des Gemeindebaus. Ich kann ihnen nach über 40 Jahren aktiver Leitung im freikirchlichen Kontext nur zustimmen. Was aber genau meinen sie mit dem bildhaften Vergleich und welche Konsequenzen müssen freikirchliche Führungskräfte im Gemeindebau ziehen, um neu zu einer „missionarischen Wirksamkeit“ zu gelangen?

Der „Modus der Erweckung“ ist Geschichte!

Freikirchen sind in einer Zeit entstanden, in der die Volkskirchen gesellschaftlich noch eine gewichtige Stimme hatten und das Christentum die Kultur noch wesentlich prägte. Auch wenn viele „Namenschristen“ waren, so waren ihnen die christliche Kernbotschaft und der christliche Wertekanon dennoch in Grundzügen vertraut. Wer dagegen heute in einem durch und durch säkularen, nach-christentümlichen Umfeld einen Zeitgenossen zum Bibellesen einlädt, sollte nicht über die Antwort überrascht sein: „Warum nicht – worum geht’s da?“ Die kirchlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich Freikirchen jahrzehntelang verhältnismäßig gut entwickeln konnten, sind in unserem säkularen Kontext also nicht mehr gegeben. 

Im Rückblick wird deutlich: Freikirchen sind in einer kulturchristlichen Umgebung entstanden, als „intensivere“ Variante christlicher Gemeinde.

Im Rückblick wird deutlich: Freikirchen sind in einer kulturchristlichen Umgebung entstanden, als „intensivere“ Variante christlicher Gemeinde. Es ging prinzipiell darum, bereits zu einem bestimmten Grad christlich sozialisierte Menschen zu einem persönlicheren und überzeugteren Glauben zu „erwecken“. Wer sein Namenschristentum ablegte und sich zu einem wiedergeborenen Christsein „bekehrte“, vollzog keinen kompletten Religionswechsel und keine radikale Veränderung der eigenen Weltanschauung, sondern stieg in eine tiefere Erfahrung und konsequentere Umsetzung dessen ein, wovon er bereits geprägt war. Insofern operierten Freikirchen in einem „Modus der Erweckung“. Sowohl die gelebte Glaubenspraxis als auch die ethischen Normen freikirchlicher Gemeinschaften waren „verstärkte“ Formen einer grundsätzlich in der Gesellschaft akzeptierten Religiosität. Das ist inzwischen nur noch äußerst selten der Fall.

Freikirchen erreichen auch heute überwiegend Menschen, die bereits ein substanzielles Maß an christlichem Vorwissen und kirchlicher Prägung mitbringen. Lediglich 8 % der Freikirchenmitglieder kann man als „unkirchlich“ (vor ihrem Eintritt) bezeichnen. Bei den meisten Menschen, die in Freikirchen eine „Bekehrung“ erfahren, besteht diese in Erneuerung bisheriger Glaubenserfahrung (Vergewisserungstyp) oder in der Anknüpfung an ein bereits vorher vorhandenes religiös-kirchliches Erbe (Entdeckungstyp). Der Lebenswendetyp, der ohne christliche Vorprägung zum Glauben kommt, bleibt die Ausnahme. 

Häufig wird (vermutlich unbewusst) bei den Menschen, die man erreichen will, ein gewisses christliches Grundwissen vorausgesetzt.

Das spricht dafür, dass der vertraute „Modus der Erweckung“ in freikirchlichen Gemeinden immer noch weit verbreitet ist. Ob in der Predigt, bei der Gottesdienstgestaltung oder in Formulierungen auf der Gemeinde-Webseite: Häufig wird (vermutlich unbewusst) bei den Menschen, die man erreichen will, ein gewisses christliches Grundwissen, sozusagen ein geistlicher Grundwasserspiegel, vorausgesetzt, der aber inzwischen rapide gesunken ist.

Der ehemalige Bischof der methodistischen Kirche, Walter Klaiber, bemerkt:

„Dort, wo die Restbestände volkskirchlicher Frömmigkeit ganz fehlen und die Menschen der Kirche nicht einmal mehr entfremdet sind [wie z. B. in Ostdeutschland], weil schon ihre Eltern und Großeltern nicht mehr zu ihr gehörten, da tun sich auch die Freikirchen mit ihrer missionarischen Arbeit sehr schwer. Ist es doch hilfreich, wenn der harte Boden der Areligiosität durch ein flächendeckendes volkskirchliches Wirken aufgelockert ist, damit die Saat des Evangeliums in die Herzen eindringen kann?“

Walter Klaiber in Landeskirche und Freikirche: Deutsche Verhältnisse und internationale Trends

Diese Frage kann nur mit „Ja“ beantwortet werden. Freikirchen haben zweifellos von einem „kirchlich aufgelockerten Boden“ im Rahmen einer christentümlichen Gesellschaft profitiert. Nach wie vor finden sie missionarisch eher Zugang zu Menschen, die mit dem christlichen Glauben halbwegs vertraut sind.Wer nun aber in einem zunehmend säkularen Umfeld Menschen für den christlichen Glauben erreichen will, sollte bewusster und konsequenter als bisher verinnerlichen, dass das Ziel nicht mehr darin bestehen kann, bereits mehr oder weniger christlich Sozialisierte im Rahmen der Gemeinde zu einem lebendigen Glauben zu „erwecken“. Wir brauchen einen Mentalitätswechsel, ein „Umparken im Kopf“.

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlages. ☺️ Hier geht es zum 2. Teil

Gemeinde mit Mission,

Philipp Bartholomä, Stefan Schweyer,

Brunnen Verlag

20,00 €

Über Lothar Krauss

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5 Antworten zu Freikirchen müssen „im Kopf umparken“! (1)

  1. Hans schreibt:

    Das ist ja interessant. Wir da jetzt halbwegs wissenschaftlich festgestellt, dass Freikirchen bisher eigentlich immer hauptsächlich in fremden Gewässern gefischt hat?

  2. dubbelchenMathis schreibt:

    Hi. Habe das Buch auch mit großem Gewinn gelesen und nachvollzogen.
    Finde es sehr gut recherchiert und gewinnbringend.
    Einzig und allein der Praxis-Teil überzeugt mich nicht. Während sie zu Beginn des Buches noch recht deutlich machen, dass Veranstaltungszentriertheit und der Gottesdienst nicht mehr Kern der Evangelisationsarbeit sein können (Was neuere Gemeindekonzepte belegen), fokussieren sie dann doch wieder auf den Gottesdienst (als Veranstaltung?) um und zu dem sich alles dreht. Das finde ich zu ideenlos und noch nicht so wirklich „umgeparkt“ :-). Da bin ich schon sehr gespannt, was du dazu schreibst, falls du das Buch bis zu dem Punkt besprechen wolltest.

    • Lothar Krauss schreibt:

      Stark, wie Du das in Worte kleidest! Ich denke, dass wir aktuell kein flächendeckendes „Konzept“ im Lande finden. Weder im attraktionalen noch im missionalen Ansatz. Methodisch gibt es hier und da interessante Ansätze, immer auch sehr begabte Einzelpersonen, die anderen helfen, den Glauben zu entdecken usw. Von daher fand ich es gut, dass im Buch von „Good Practice“, statt von „Best Practice“ gesprochen wird. Aber da ist – mega Luft nach oben, wie mir Philipp auch bestätigt hat.

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