Die Professoren Philipp Bartholomä und Stefan Schweyer haben uns Leser im ersten Teil dazu aufgefordert, dass wir im Kopf umparken müssen. Freikirchen haben für ihre Entwicklung und ihr Wachstum von Landeskirchen profitiert. Menschen waren „spirituell angewärmt“ und Freikirchen konnten einfacher anknüpfen bei denen, die grundsätzlich fragend und offen waren. Aber diese Anknüpfungspunkte sind weitgehend verloren gegangen. Die Zeiten haben sich geändert. Heute leben viele Menschen ohne jede religiöse Bedürftigkeit. Und es geht ihnen dabei richtig gut. Religion hat in der Folge in Europa massiv an Bedeutung verloren.
Die geistlichen Fragen, die Menschen auch in unserem Kontext bewegen, sind aber letztlich gleich geblieben. Es gibt sehr verborgene Anknüpfungspunkte, die Leiterinnen und Leiter in Kirchen und Freikirchen verstehen sollten. Welche? Hier sind ein paar Ansätze, die Bartholomä und Schweyer, aufgreifen:
- Spirituelle Grundinstinkte
- Sehnsüchtige Ruhelosigkeit – gibt es die noch?
- Glaubwürdige Versprechen
- Mitten ins Herz
- Große Themen, die alle „jucken“
- Anknüpfungspunkte in einer säkular geprägten Kultur
Spirituelle Grundinstinkte
Nach vielen Jahrzehnten Gemeindeerfahrung in glaubens- und kirchenfernen Milieus kommt Alexander Garth zum Schluss: Es gibt keine generelle geistliche Sehnsucht im Menschen, an die man problemlos anknüpfen könnte. Von einer prinzipiellen Offenheit für den christlichen Glauben auszugehen, ist seiner Ansicht nach eine Illusion. Die geistliche Dimension sei
„so verschüttet, verborgen und von einem naturalistisch-materialistischen Weltbild überlagert, dass der homo areligiosus [also der ohne religiöse Vor- stellungen auskommende Mensch] tatsächlich ohne jede religiöse Bedürftigkeit lebt. Völlig desinteressiert an metaphysischen Fragen und ohne die leiseste Ahnung eines religiösen Vakuums freut er sich des Lebens und ist glücklich und unglücklich wie andere Menschen auch.“
Genauso entschieden hält Garth dann aber an der Grundüberzeugung fest, dass der Mensch dennoch „unheilbar religiös“ sei, „dass in jedem Menschen so etwas wie ein spiritueller Grundinstinkt, eine Ur-Sehnsucht, eine spirituelle Kernpersönlichkeit angelegt ist“. In der Tat spricht vieles dafür, dass Menschen ganz grundsätzlich religiös ansprechbar bleiben. Trotz Gleichgültigkeit und selbstverständlicher Diesseitsorientierung schlummern auch in unseren glaubensfernen Zeitgenossen tiefe Sehnsüchte, wie säkular überlagert diese auch sein mögen. Und auch heute nähern sich Menschen dem Glauben an, wenn sie merken, dass es auf die bislang verdrängten, großen Lebensfragen – also: Woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich und wozu lebe ich eigentlich? – rein innerweltlich keine vernünftigen und emotional zufriedenstellenden Antworten gibt.

„Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“
Augustinus
Sehnsüchtige Ruhelosigkeit – gibt es die noch?
Schon der Kirchenvater Augustinus wusste: „Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“ Gemeinden, die in besonderer Weise Zugang zu postmodern-säkularen Menschen gefunden haben, nutzen nun genau diese „sehnsüchtige Ruhelosigkeit“ als wirksamen missionarischen Anknüpfungspunkt. Ihre Erfahrungen zeigen: Interesse an Gott und dem christlichen Glauben entsteht häufig dort, wo spirituelle Grundinstinkte stimuliert werden. In Gottesdiensten und Glaubensgrundkursen, aber auch im persönlichen Gespräch, greift man bewusst die existenziellen Wünsche und Hoffnungen noch-nicht-glaubender Menschen auf:
- Was bewegt sie?
- Wonach streben sie?
- Was erfüllt sie?
- Worauf hoffen sie?
- Was gibt ihnen Sicherheit?
- Worin liegen für sie die Quellen tiefer Freude und Zufriedenheit?
Evangelistisch wirkungsvolle Gemeinden zielen in ihrer Arbeit darauf ab, die ungestillten Sehnsüchte der Menschen ernst zu nehmen und aufzugreifen, um ihnen anschließend aufzuzeigen, dass diese Sehnsüchte nur in der Beziehung zu Gott in Jesus Christus vollkommen gestillt werden können. Eine liebevolle Begegnung mit ihren dauerhaft unerfüllten Sehnsüchten ist für viele der Auslöser, sich näher mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen. Glaubensprozesse kommen in Gang, wo man zu der schmerzhaften Einsicht kommt, dass irdische „Glücksbringer“ langfristig nicht halten, was sie versprechen.
Glaubwürdige Versprechen
Zu diesem Ansatz gehört allerdings auch der Hinweis, dass die vollkommene Stillung menschlicher Sehnsüchte erst mit der Vollendung der neuen Schöpfung zu erwarten ist. Auch Christen müssen lernen, in der Gegenwart mit teilweise unerfüllten Sehnsüchten zu leben. Selbst das Gute, das wir erleben, bleibt bestenfalls ein „Vorgeschmack“ auf die vollkommene Erfüllung unserer Hoffnungen in der Ewigkeit.
Bereits vor über 80 Jahren hat der britische Autor C. S. Lewis auf solch „postmoderne“ Art versucht, den Glauben plausibel zu machen. Dabei nahm er gezielt Bezug auf tiefer liegende menschliche Herzensregungen und formulierte die bekannten Worte:
„Wenn wir nun in uns selbst ein Bedürfnis entdecken, das durch nichts in dieser Welt gestillt werden kann, dann können wir daraus doch schließen, dass wir für eine andere Welt erschaffen wurden. Wenn keine irdische Freu- de dieses Verlangen befriedigen kann, heißt das ja noch nicht, dass die ganze Erde ein Betrug ist. Die irdischen Freuden waren vielleicht nie dazu be- stimmt, es zu stillen, sondern nur dazu, es wachzurufen, auf das Wirkliche hinzudeuten.“
C.S. Lewis, Pardon, ich bin Christ
Anders gesagt: Ungestillte Sehnsüchte wecken spirituelle Grundinstinkte und sind am glaubhaftesten dadurch zu erklären, dass wir eigentlich für eine andere Welt gemacht sind.
Mitten ins Herz
Angesichts der Erfahrungsorientierung und emotionalen Ansprechbarkeit der Postmoderne ist unsere Kommunikation dort „erfolgversprechend“, wo wir „mitten ins Herz“ zielen. Wir können der Schönheit und Kraft des Evangeliums eine Gestalt geben, wenn wir es schaffen, die christliche Botschaft weise, einfühlsam und verständlich mit den tiefsten menschlichen Sehnsüchten, Bedürfnissen und Lebensfragen zu verbin- den. Das ist kein Automatismus, aber anstelle von Gleichgültigkeit und Desinteresse entsteht so womöglich echter Glaubenshunger.
Große Themen, die alle „jucken“
So gibt es also universelle menschliche Sehnsüchte, an die wir andocken können, um mit Menschen über den Glauben ins Gespräch zu kommen. Zwischen den eigenen biblischen Glaubensüberzeugungen und dem Denk- und Wertesystem säkularer Zeitgenossen liegen häufig Welten, doch diese spirituellen Grundinstinkte können Ansatzpunkte liefern, um zum Nachdenken über Gott anzuregen.
Der britische Theologe Tom Wright benennt in seinem Buch Warum Christ sein Sinn macht vier Sehnsüchte, die sich auch bei säkularisierten Mitmenschen als unterbewusste Hinweise auf Gott interpretieren lassen:
- die Sehnsucht nach Gerechtigkeit („Die Welt ins Lot bringen“)
- die Sehnsucht nach Spiritualität („Die verborgene Quelle“)
- die Sehnsucht nach Beziehungen („Füreinander geschaffen“)
- die Sehnsucht nach dem Guten und Schönen („Die Schönheit der Erde“)
Ganz ähnlich hat Johannes Hartl in seinem Buch Eden Culture die menschlichen Grundbedürfnisse nach Verbundenheit, Sinn und Schönheit beschrieben. Klar ist: Diese Sehnsüchte werden heute kaum noch religiös und schon gar nicht christlich gefüllt. Doch auch in säkularem Gewand gehören sie zum Grundbestand menschlichen Lebens. Selbst Menschen, die einem Gott-losen Weltbild anhängen und die der Glaube nicht mehr „juckt“, können sich dem „Juckreiz“ dieser existenziellen Fragen und Sehnsüchte nicht entziehen. Trotz gegenteiliger Beteuerungen suchen sie mit Nachdruck nach Dingen, die über das Diesseits und eine rein säkulare Deutung des Daseins hinausweisen.
Ähnlich argumentiert Timothy Keller in seinem Grundlagenwerk Glauben wozu? Religion im Zeitalter der Skepsis. Auf der Basis jahrzehntelanger Erfahrung im säkularen New York setzt er sich mit verschiedenen Annahmen („Glaubenssätzen“) auseinander, die in den Köpfen und Herzen unserer Zeitgenossen so stark sind, dass sie den christlichen Glauben von vornherein als wenig plausibel oder gar undenkbar erscheinen lassen:
- „Man muss nicht an Gott glauben, um ein erfülltes Leben voller Bedeutung, Hoffnung und Zufriedenheit zu haben.“
- „Man sollte frei sein, so zu leben, wie man es für richtig hält, solange man niemandem schadet.“
- „Du wirst, wer du bist, wenn du deinen tiefsten Wünschen und Träumen treu bleibst.“
- „Man muss nicht an Gott glauben, um eine Grundlage für ethisch-moralische Werte und Menschenrechte zu haben.“
Anknüpfungspunkte in einer säkular geprägten Kultur
Es ist unschwer zu erkennen: Auch hinter diesen Glaubenssätzen verbergen sich letztlich Sehnsüchte nach einem erfüllten Leben, nach Freiheit, nach Ich-Entfaltung und nach einem friedlichen Zusammenleben. Denn auch eine noch so säkular geprägte Kultur kommt nicht an diesen grundlegenden spirituellen Instinkten vorbei – und steht vor der Aufgabe, den Menschen Bedeutung, Geborgenheit, Zufriedenheit, Freiheit, eine tragfähige Identität und eine der Gesellschaft dienliche Moral zu verschaffen, weil wir ohne diese Dinge einfach nicht leben können. Eine wichtige Frage für die Zukunft ist: Haben wir die richtige apologetische (den Glauben verteidigende) und evangelistische Weichenstellung?
Hierfür liefern Wright und Keller wesentliche Impulse. Sie helfen uns zu verstehen, wie Jesus jede dieser universellen menschlichen Sehnsüchte erfüllt, indem sie zeigen,
„dass der christliche Glaube emotional wie kulturell am meisten Sinn ergibt, dass er die großen Lebensthemen am treffendsten erklärt und dass er unübertroffene Ressourcen bietet, um diesen unweigerlichen menschlichen Bedürfnissen zu begegnen.“
Tim Keller, Glauben wozu?
Um all das freundlich und überzeugend zu vermitteln, werden intensives Nachdenken und viel Geduld nötig sein. Doch die Mühe lohnt sich: Auch wenn es vielen unserer Mitmenschen unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen geradezu unumgänglich vorkommt, nicht zu glauben, lässt sich missionarisch am „Sehnsuchtsfaktor“ anknüpfen, um Menschen auf diesem Weg auf Gott aufmerksam zu machen.
Hinweis: Weitere Zwischenüberschriften und Hervorhebungen habe ich als Blogger für diesen Beitrag für den Post eingefügt, ob dem Bedarf eines Blogposts besser nachzukommen.
Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlages. ☺️ (Teil 1)
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Hi Lothar. Dieses Buch habe ich vor einer Woche auf dem Schreibtische eines Freundes entdeckt und direkt begonnen zu lesen. Dieses Buch rüttelt auf, fordert heraus und inspiriert ungemein. Ich kann es sehr empfehlen zu lernen.