Diesmal war er krass. Der „Predigtkater“ – Von komischen Gefühlen nach der Predigt

Jeder, der schon mal eine Andacht, Predigt, Input oder einen Impuls im Gottesdienst, Jugendkreis … weitergegeben hat, kennt das: der „Predigtkater“. Man fühlt sich auf einmal ganz komisch. Nicht immer ist das so, aber immer wieder. Was ist das genau?

Die evangelische Pfarrerin, Dr. Anne Helene Kratzert hat auf Facebook großartige Worte gefunden, die diese Erfahrung beschreiben. Ich muss sie mit euch hier teilen und hoffe, dass sie alle die von uns ermutigen, die aus erster Hand und manchmal etwas ratlos diese Gefühle und Gedanken kennen.

Dr. Anne Helene Kratzert

Diesmal war er krass.

Er kommt regelmäßig nach „großen“ Gottesdiensten oder wichtigen Feiertagen. Ich nenne ihn den „Predigtkater“. Und meine damit eine ganz bestimmte Verlegenheit, die sich einstellt, wenn ich das Gefühl habe, beim Predigen gebrannt zu haben. Verlegenheit ist eigentlich viel zu wenig. Es ist Scham. Als hätte ich mich ausgezogen oben auf der Kanzel. In einer vollen Kirche. Kennst du diesen Traum, in dem du der einzige nackte Mensch unter lauter angezogenen bist? So.

Das hat viel mit der Psychologie des Predigens und wenig mit mir zu tun. Ich bin eigentlich kein wahnsinnig schambehafteter Mensch. Aber beim Predigen darf jeder einmal reinschauen in mein religiöses Gemüt. Ich stehe ein für jedes Wort, das da fällt. Ich verantworte jede Vision. Ich vertrete eine Hoffnung, die mir selbst oft staubig durch die Finger rinnt. Oder wie guter Wein im irdenen Gefäß versickert.

Und trotzdem: Was mein einziger Trost ist im Leben und im Sterben? Meine größte Angst, meine bangste Befürchtung, meine zitterndste Hoffnung? Bitte sehr. Hier habt ihr’s. Ein offener unverschämter Blick in die Intima meiner frommen Seele.
Predigen kann ein Rausch sein wie ein gutes Besäufnis. Und der Kater danach genauso fies.

Und die kreisenden Fragen dieselben:

War ich zu intensiv? Die Worte zu anstößig, die Bilder zu groß? Bin ich jemandem zu nahe gekommen oder nicht nah genug? Hab ich zu viel riskiert oder zu wenig?

Predigen ist ein Wagnis und ein unglaublich mutiger move. Wir sind die, die vorne stehen. Immer wieder. Sonntag für Sonntag und an anderen Tagen auch. Wir sind die, die Worte finden für Realia, die rechts und links von uns niemand ausspricht. Weil es intim ist, woran ich glaube und riskant, es zu benennen.

Ein Hoch auf euch, ihr lieben, mutigen Menschen, die ihr das immer wieder riskiert. Auf euch Pfarrer*innen, Geistliche, Prädikant*innen, Prediger*innen und Lektor*innen. Auf alle, die bereit sind, die Hoffnung zu predigen, trotz Kater: L’chaim! ❤️

Ein Leser gab mir noch dieses Video als Tipp zur Vertiefung des Themas:

Fotos: Screenshots Facebook, Unsplash

Ulrich Müller hat noch diesen Beitrag ausgegraben, der sehr gut passt und richtig aufschlussreich ist:

In der FAZ vom 2.1.2023 schreibt die Moderatorin Carmen Thomas etwas Anregendes zum „Auftritts-Kater“, das ich hilfreich finde. Sie rekapituliert, wie sie Anfang der 70er erste weibliche Moderatorin des „Aktuellen Sportstudios“ wurde. Nach einer Begegnung mit dem damaligen Innenminister Genscher hielt sie fest:

Direkt danach hatte ich einen – mir zu der Zeit noch unbekannten – „Auftritts-Kater“ mit den vier strukturellen Beinen: „Das hättest du nicht . . .“, „Das hättest du anders . . .“, „Das hättest du auch noch . . .“. Und auch das vierte Bein erfüllte sich: Einer von den Neidhammeln meinte: „War wohl nicht Ihr Tag heute“. Peng. Toll.

Der Kater im Anschluss bekam in den nächsten Tagen Pumagröße und verfolgte mich noch länger mit Anfällen von so ner Art „Rotem-Kopf-Syndrom“ im Nachhinein. Kennen Sie das auch?

Erst nach 1974, als die Redaktion und gleich auch die Moderation der ersten Mitmachsendung im Rundfunk, „Hallo Ü-Wagen“ im WDR, fast tausendmal meine wöchentliche, knapp dreistündige Leib-und-Magen-Aufgabe wurde, führte die Entdeckung der Auftrittskaterstruktur zu einem effektiv befreienden Durchbruch. Einsicht: Ein Übermaß an Mittelpunkt kann genau wie ein Kater bei zu viel saufen wirken. Ihn jedoch annehmen und mit dem ganzen Team achtsam-seriös und systematisch streicheln lernen kann helfen, die Nachwehen zu reduzieren.

Über Lothar Krauss

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2 Antworten zu Diesmal war er krass. Der „Predigtkater“ – Von komischen Gefühlen nach der Predigt

  1. Jonas schreibt:

    Ich denke die Auswirkungen der „Seelenstripties“ ist nur eine Begründung für den Predigtkater. Auch sehr gut erklärt finde ich hier das Video von Doro Plutte:

  2. Kalle Pihan schreibt:

    Ich finde, alles in eine Predigt hineinzulegen, also „all in“, auch teilweise Persönliches preiszugeben und in seine geistliche Seele blicken zu lassen, ohne jeden Gedanken vorher auf die Goldwaage zu legen, faszinierend. Und wenn man sich dann noch in gutem Deutsch ausdrücken kann – wunderbar! Genau das macht für mich eine Predigt so außergewöhnlich fesselnd und berührt mich tief.
    Es ist doch eine Gnade, wenn das gelingt.
    Für das „Loch danach“ biete ich gern ein aufmunterndes Gespräch und, wenn gewünscht, ein gutes Glas Rotwein an.
    Ich bin übrigens nur Zuhörer.

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