Echte Lebensveränderung. Davon träumen viele Leute. Auch Christen! Fakt aber ist, dass auch viele Christen nach Jahrzehnten irgendwie immer noch die Gleichen sind. Was läuft falsch? Warum verändern sich auch Christen so selten? Ist Lebensveränderung am Ende nur ein „frommer Wunsch“? Dr. Philipp Bartholomä, der Autor von „Das Beste zur Hochzeit“ geht in seinem Beitrag der Sache auf den Grund.
Vor einiger Zeit hat ein Statement von Paulus mich persönlich für meinen Pastoren- und Leitungsdienst inspiriert. Er schreibt in Kolosser 1:28-29 (NGÜ):
„Ihn, Christus, verkünden wir; wir zeigen jedem Menschen den richtigen Weg und unterrichten jeden Menschen in der Lehre Christi; wir tun es mit der ganzen Weisheit, die Gott uns gegeben hat. Denn wir möchten jeden dahin bringen, dass er durch die Zugehörigkeit zu Christus als geistlich reifer Mensch vor Gott treten kann. Das ist das Ziel meiner Arbeit; dafür mühe ich mich ab, und dafür kämpfe ich im Vertrauen auf Gottes Kraft, die in meinem Leben so mächtig am Werk ist.“
Veränderungsprozess mit klarem Ziel: Geistliche Reife
Das ist das große Ziel, das der Apostel mit aller Kraft und Hingabe verfolgt: Menschen helfen, geistlich zu reifen. Es geht darum, Veränderungsprozesse anzustoßen, die Gott ehren und von Außenstehenden wahrgenommen werden. Doch wie geschieht das? Und was kann ich als Leiter dazu beitragen?
In seinem Vorwort zu Jonathan Edwards’ Klassiker Religious Affections [1746] schreibt Prof. James M. Houston:
„Edwards war durch den niedrigen geistlichen Stand seiner Gemeinde sehr beunruhigt. Dies änderte sich etwa 1734, als er begann, mehr über die Rechtfertigung aus Gnade durch den Glauben zu predigen.“
Offensichtlich kam Edwards zu der Überzeugung, dass geistliche Wachstums- und Veränderungsprozesse im Leben von Menschen primär durch ein tieferes Verständnis der „Rechtfertigung aus Gnade“ angestoßen werden. Das, was wir üblicherweise „Heiligung“ nennen, kommt mit anderen Worten also dann zustande, wenn wir stärker vom Evangelium erfasst werden.
„Evangeliums-Dürre“
Doch genau hier herrscht in unseren Gemeinden Notstand, „Evangeliums-Dürre“ sozusagen. Das zumindest ist meine Beobachtung über Denominationsgrenzen hinweg. Das Evangelium wird zu schnell als „verstanden“ abgehakt und durchdringt unsere Gemeinden kaum. Deshalb ist es mir hier ein großes Anliegen, Pastoren, Leiter und Verantwortungsträger neu zu überzeugen, dass nur das Evangelium der Gnade Menschen dauerhaft und tiefgreifend verändern kann. Und ich möchte dazu motivieren, unsere Gemeinden ständig neu mit diesem Evangelium zu „sättigen“ und ihnen bei jedem erdenklichen Anlass zu zeigen, dass sie das Evangelium tiefer erfassen müssen, um immer mehr zur Ehre Gottes leben zu können.
Was uns nicht verändert: Das Gesetz
Eine schmerzhafte, tiefgehende Auseinandersetzung mit der Sündhaftigkeit des eigenen Herzens ist Grundvoraussetzung für Veränderungsprozesse in unserem Leben. Diese Auseinandersetzung sollten wir als Leiter fördern. Wenn wir mit Gottes Gesetz, d.h. seinen göttlichen Maßstäben, konfrontiert werden, lernen wir die eine Seite des Evangeliums kennen: „In uns selbst sind wir sündiger als wir es uns vorstellen können.“ Charles Spurgeon hat in diesem Zusammenhang allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Gesetz Gottes lediglich ein Spiegel sei. In diesem Spiegel erkennen wir unseren Schmutz (unsere Sündhaftigkeit). Einen substantiellen Beitrag zur Reinigung leistet der Spiegel nicht. Daraus folgt: Reinigungs- und Veränderungsprozesse werden nicht dadurch gefördert, dass wir uns ausdauernder mit eben diesen Maßstäben Gottes beschäftigen und mit immer größerer Anstrengung versuchen, diese zu erfüllen. Martin Luther hat in seinen Ausführungen zum Galaterbrief treffend bemerkt, dass es gar nicht die Hauptaufgabe des Gesetzes sei, Menschen besser zu machen, sondern schlechter. Das Gesetz ist dazu da, ihnen ihre Sünde zu zeigen. Diese Konfrontation soll Menschen so demütig und bedürftig machen, dass sie dazu getrieben werden, Gnade zu suchen und „zum herrlichen Christus“ zu kommen.
Was uns verändert: Die Gnade
Es erscheint uns oft wenig intuitiv und doch ist es wahr: Es ist die Gnade, die Veränderungsprozesse in unserem Leben anstößt. Paulus benennt das göttliche Gnadenhandeln in Christus als das ultimative Mittel, um uns mehr und mehr in das Bild unseres Herrn zu verwandeln.
„Denn in Christus ist Gottes Gnade sichtbar geworden – die Gnade, die allen Menschen Rettung bringt. Sie erzieht uns dazu, uns von aller Gottlosigkeit und von den Begierden dieser Welt abzuwenden und, solange wir noch hier auf der Erde sind, verantwortungsbewusst zu handeln, uns nach Gottes Willen zu richten und so zu leben, dass Gott geehrt wird.“ (Titus 2,11-12, NGÜ)
Und welche Strategie gibt Petrus seinen Leuten an die Hand, um der Aufforderung nachzukommen, „ein durch und durch geheiligtes Leben [zu] führen“? Er fokussiert sie neu auf Jesus und schreibt:
„Richtet euch daher ganz auf Jesus Christus aus (…) und setzt eure Hoffnung völlig auf die Gnade.“ (1.Petrus 1,13-15, NGÜ)
Wer die Tiefe seiner eigenen Sündhaftigkeit erkennt und auf diesem dunklen Hintergrund den „unerschöpflichen Reichtum der Gnade“ immer wieder persönlich erfährt, der wird in der Folge kaum unverändert bleiben können. Existentielle Gnadenerfahrung führt zu einem veränderten Leben. Das ist die zweite Seite des Evangeliums: „Gott liebt mich in Jesus Christus mehr als ich es mir vorstellen kann.“ Je mehr ich erfasst bin von diesem Evangelium, desto mehr wird mein Herz (mein Charakter) im Sinne Gottes geformt. Wieder ist es Charles Spurgeon, der es bewegend auf den Punkt bringt:
„Wenn ich das Gefühl hatte, Gott und sein Gesetz seien hart, da fand ich es einfach zu sündigen; aber wenn ich vor Augen hatte, wie freundlich, gütig und überfließend barmherzig Gott ist, da schlug ich mir an die Brust und dachte: ‘Wie konnte ich nur jemals gegen den rebellieren, der mich so sehr geliebt hat und mein Bestes will?’“
Leiter, die ihren Auftrag darin sehen, Menschen zu größerer geistlicher Reife zu führen, werden das Evangelium highlighten, wo sie nur können. Wie das konkret aussehen kann, ist ein Thema für ein andermal …
Den Zusammenhang, den Philipp Bartholomä zwischen Gnade und Wachstum herstellt, teile ich sehr. Ich sehe das Hauptproblem darin, dass man Gnade ja gar nicht als Gnade verkündigen kann, wenn nicht zuvor eine tiefgreifende Überführung von Sündhaftigkeit und Mangelhaftigkeit stattgefunden hat. Gerade bei Jonathan Edwards sieht man diesen starken Zusammenhang. Seine Predigten dürften heute wohl auf keiner Kanzel Deutschlands verkündigt werden, weil sie gerne die Schrecken der Verlorenheit darstellten (beim Lesen seiner berühmten Predigt von 1741: Sinners in the hand of an angry god, stellen sich dem postmodernen Leser die Nackenhaare auf) . Das jedoch führte erst dazu, dass Menschen zusammenbrachen und um Gnade flehten. Die Frage, ob das ein angemessenes Vorgehen ist, erst das Gesetz zu predigen, damit die Herzen Gnadenhungrig werden, und dann erst die Gnade, ist fast so alt wie die Reformation. Schon 1527 – im ersten antinomistischen Streit – stritt sich erst Melanchton, später Luther mit Agricola darüber. Melanchton vertrat eben diesen Standpunkt: Erst muss die zur Buße führende Gesetzespredigt kommen, dann erst die Glaubenspredigt. Agricola hingegen lehnte das komplett ab und schwang sich zu dem geflügelt Wort auf: „Das Gesetz gehört allein aufs Rathaus“. Das dürfte die Stimmungslage in unserer Gesellschaft und unseren Gemeinden treffend widergeben. Es ist schwer über die Verlorenheit und Mangelhaftigkeit der Menschen so zu predigen, dass ein heiliger Schrecken entsteht und der Hunger nach Gnade geweckt wird. Das ist dem postmodernen Menschen, der sich so sehr versucht zu inszenieren und das Beste aus sich rauszuholen, kaum zu vermitteln. Ich weiß auch nicht, ob ich zu diesem Versuch raten würde. Aber dieses Defizit an Verständnis der eigenen Mangelhaftigkeit gegenüber dem Heiligen scheint mit ein wesentlicher Grund dafür zu sein, dass so wenig tiefgreifende Veränderung geschieht in unserer Zeit. Danke für den wertvollen Beitrag.