„Leiter, die integer bleiben wollen, müssen Mystiker sein – Menschen in der bewussten Gegenwart Gottes – die die Führungsethik der Bibel zu sich nehmen wie ein Medikament.“
In diesem letzten Teil der Reihe schließt unser “Sommerblogger” THOMAS HÄRRY seine Reflexionen zum Weg, ein integrer Leiter zu werden, ab. In den ersten drei Beiträgen blickte er auf Verhaltensmuster, die den Leiter gefährden. Ab dem vierten Teil ging es darum die DNA gesunder Leitung anzudeuten. Heute wendet er sich direkt der Frage zu, was eine Führungskraft tun soll, um integer zu sein und zu bleiben.
Unser „Sommerblogger“ 2013 war der Bestsellerautor, Redakteur bei Aufatmen und Dozent am TDS Aarau Thomas Härry.
Wie entsteht Integrität?
Ich habe betont, dass integere Leiter nicht geboren werden. Sie werden dazu geformt und herangebildet. Aber wie? Ich möchte erzählen, welche Wege Gott bei mir gebraucht, um solche Qualitäten wachsen zu lassen.
Ich identifiziere mich mit der Aussage, die Bill Hybels vor einiger Zeit in einem Vortrag gemacht hat. Hybels sagte: „Leiter müssen Mystiker sein.“ Ein Leiter kann viel von modernen Führungsgrundsätzen, auch aus der Wirtschaft, lernen. Ein christlicher Leiter sollte sich aber nie nur auf diese Grundsätze stützen. Sein primäres „Lerntool“ sollte seine persönliche Gottesbeziehung sein – das „mystische“ Element von Leitung. Eine lebendige, in der Bibel verwurzelte Spiritualität ist der Nährboden, der Charakter, Integrität und gesunde Führung hervorbringt.
Ich weiß, das klingt etwas altbacken. Ich möchte es deshalb etwas pointierter sagen: Wenn ich als Leiter der Entwicklung meiner persönlichen Spiritualität nicht eine hohe Priorität einräume, dann sollte ich auf meine Leitungsfunktion verzichten. Mir selbst und den Menschen zuliebe, die ich führe. Nach meiner Erfahrung gibt es keinen wirksameren Weg, den zahlreichen Leiter-Fallen zu entgehen oder sie aufzuarbeiten als eine lebendige Gottesbeziehung, in der ich dem Reden und Korrigieren Gottes eine große Offenheit entgegen bringe. Für mich persönlich erweisen sich die folgenden Elemente einer gesunden Spiritualität als besonders hilfreich.
1. Eintauchen in den Text der Bibel
Wie kann ich der Versuchung nach Macht, Ehre, sexuellen Abenteuern, kurzfristigem Erfolg und eigenwilligen Führungsentscheidungen wirksam widerstehen? Nur dann, wenn mein Denken ständig erneuert und korrigiert wird. Für mich heißt das: Ich habe es dringend nötig, dass mein Denken und Fühlen, meine Motive und Ziele gereinigt, geschrubbt und von Gottes Geist veredelt werden (siehe Epheser 5,26 und Psalm 119,9).
Das geschieht bei mir nur dann, wenn ich mir viel Zeit nehme, die Wahrheiten der Bibel förmlich in mich aufzusaugen. Nicht durch eine flüchtige Bibellese. Sondern kontinuierlich, anhaltend und ausgiebig. Ich habe es nötig, die Worte der Bibel über den Machtverzicht (Markus 10,42 – 45), sexuelle Reinheit (1. Korinther 6,18 – 20), Güte, Liebe und Geduld (Philipper 2,1 – 4), Konfliktlösung (Matthäus 5,23 – 24) usw. nicht nur zu lesen, sondern sie mir selbst wie eine Injektion zu verabreichen. Ich muss diese Worte lesen, bewegen, meditieren, essen, kauen, verdauen, schlucken, daran nagen, sie verinnerlichen – bis sie tief in meine Gedanken und in mein Herz eingedrungen sind.
Wenn ich das nicht tue, dann steuern mich andere, den biblischen Wahrheiten oft entgegen gesetzte Überzeugungen. Dann regiert mich mein aufgeblasenes Ich mit all seinen fiesen Tricks und selbstbezogenen Absichten. Leiter, die integer werden und bleiben wollen, müssen Mystiker sein – Menschen in der bewussten Gegenwart Gottes – die die Führungsethik der Bibel zu sich nehmen wie ein Medikament, das für ihr Überleben absolut notwendig ist. Ich jedenfalls brauche das!
2. Momente der Innerung
Ich weiß: „Innerung“ ist ein schrecklich altes, vielen unbekanntes Wort. Aber ich liebe es, denn es umschreibt eine Gewohnheit, die für Leiter wichtig ist. „Innerung“ meint das gezielte Innehalten und nach Innen schauen. Innerung meint die Selbstprüfung des Herzens vor Gott und die Offenheit zur Korrektur und Führung durch das Wirken des Heiligen Geistes. Wenn der Apostel Paulus zu Leitern sprach, dann forderte er sie immer wieder zu dieser Selbstprüfung auf. So ermahnte er die Ältesten der Gemeinde von Ephesus: „Gebt acht auf euch selbst!“ (Apostelgeschichte 20,28).
Ohne solche Momente der Innerung hätte ich noch viel mehr und viel gravierendere Fehler als Leiter gemacht, als ich trotz ihnen getan habe. Ich brauche täglich kurze und monatlich längere Zeitabschnitte der Innerung. Wie sehen diese Momente aus und was geschieht in ihnen?
Innerung ist mehr als eine schnelle Selbstprüfung nach dem Motto: „Läuft alles rund? Habe ich alles im Griff?“ Innerung heißt für mich, mir meiner aktuellen Fragen und Herausforderungen als Leiter bewusst zu werden und im Blick auf konkrete, damit verbundene Situationen die Worte aus Psalm 139,23-24 vor Gott zu beten: „Durchforsche mich, Gott, und sieh mir ins Herz, prüfe meine Wünsche und Gedanken! Und wenn ich in Gefahr bin, mich von dir zu entfernen, dann bring mich zurück auf den Weg zu dir!“ Ich versuche dann still zu sein und auf Gott zu hören. Was hat er zu dieser Situation zu sagen? Gibt es etwas, das ich beachten sollte – bisher aber nicht erkannt habe? Gibt es irgendwo eine lauernde Gefahr, auf die mich Gott hinweisen möchte? Gibt es eine Idee oder eine Inspiration, die Gott für mich bereithält? Gibt es eine offene Tür oder eine andere Führung, die er mir geben will? In der Stille warte ich vor Gott und versuche auf das oft so „leise Säuseln“ seines Redens zu hören.
Das Beispiel des Propheten Elia in 1. Könige 19,11 – 13 macht deutlich: Gott spricht in den meisten Fällen nicht in Lärm und Geschäftigkeit, sondern im leisen Säuseln; in den stillen Momenten in seiner Gegenwart. Unzählige Male hat mich Gott in solchen Momenten der Innerung gewarnt, inspiriert, ermutigt, geführt und zu mir gesprochen. Ich könnte mir meine Führungsaufgabe ohne dieses Reden Gottes nicht mehr vorstellen. Leiter müssen Mystiker sein!
Zur Innerung gehört für mich immer auch das Loslassen, das ich bereits angesprochen habe. Ich sage dabei bewusst laut zu Gott: „Ich lasse mich als Person mit all meinen Zielen, Wünschen und Vorstellungen los. Ich will nicht auf meiner Sicht der Dinge bestehen, wenn du andere, bessere Vorstellungen darüber hast.“ Oder ich sage zu Gott: „Ich lasse diese Gemeinde los. Ich lasse diesen und jenen Leiter los, auch wenn er mir noch so lieb und wertvoll ist. Ich lasse meine Stellung als Leiter los. Dir gehört diese Gemeinde. Dir gehören die Leiter. Du entscheidest über meine Position. Ich will dies alles dir anvertrauen und mich nicht daran klammern oder mich zu sehr damit identifizieren.“
Denken Sie nun nicht, ich sei ein Heiliger. Es gibt genügend Momente, in denen ich so beten sollte – und es doch nicht tue. Und manchmal bete ich zwar so, aber mein Herz ist nur halb dabei und wünscht sich insgeheim das Gegenteil. Dennoch: Ich übe weiter das Loslassen und halte trotz allem an der Disziplin der „Innerung“ fest. Ich sage Ihnen: Das sind befreiende Momente! Darin erlöst Gott mich wieder neu vom Klammeraffen-Syndrom.
3. Begleitung und Beratung
Es ist erstaunlich: Viele geistliche Leiter betonen in ihren Vorträgen, wie wichtig es für ihre Zuhörer ist, dass sie Menschen um sich haben, denen sie ihre Sünden bekennen und wo sie Rechenschaft ablegen können. Sie ermutigen, nicht erst dann einen Seelsorger aufzusuchen, wenn ein Problem eskaliert. Sie ermutigen, sich Mentoren zu suchen, die sie in ihren Fragen und Herausforderungen begleiten. Selber aber halten sich nur wenige Leiter an das, was sie predigen.
Die Mehrheit christlicher Leiter, die ich kenne, geht selber zu keinem Seelsorger. Es gibt keinen Ort, an dem sie regelmäßig über ihr geistliches Leben und die Entwicklung ihres Charakters Rechenschaft ablegen. Und mir scheint: Je höher die Position eines Leiters, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht nach der Disziplin der persönlichen Rechenschaft lebt.
Das stimmt nachdenklich. Und so wundert es mich nicht, dass dort, wo Leiter scheitern, dieses begleitende, beratende, korrigierende Beziehungsnetz von Mentoren und Seelsorgern fast immer gänzlich gefehlt hat.
Auch Leiter brauchen Menschen, denen sie ihre Sünden bekennen können. Vielleicht brauchen sie es sogar mehr als andere Menschen, denn das Versagen von Leitern hat oft weit reichendere Folgen als das Versagen „gewöhnlicher“ Leute. Führungspersonen, die in ihrer Integrität wachsen wollen, suchen sich darum zwei Arten von Menschen: Solche, die sie priesterlich begleiten – und solche, die sie beraten.
Anstelle von „priesterlichem Begleiter“ könnte man auch „geistlicher Führer“ oder „Seelsorger“ sagen. Ich verwende hier das Wort „priesterlich“, weil darin der Zusammenhang zu meinen Fehlern und Sünden sichtbar wird. Die Aufgabe eines Priesters ist es, den Menschen zu helfen, Vergebung für ihre Sünden zu bekommen. Er ist ein Gesandter Gottes, der den Menschen helfen soll, für ihr Leben Gnade, Vergebung und Reinigung zu finden. Ein Leiter, dem Integrität wichtig ist, kennt eine oder zwei Personen, denen er erlaubt, dass sie ihm priesterlich dienen. Mit diesen Menschen spricht er über sein geistliches Leben. Vor ihnen bekennt er seine Sünden. Er erlaubt ihnen, ihm zu helfen, den Dingen in seinem Leben auf die Spur zu kommen, die Korrektur, Heilung und Festigung brauchen. Meinem priesterlichen Begleiter habe ich das Mandat erteilt, mich im Blick auf die Reinigung und Erneuerung meiner Seele herauszufordern.
Berater sind Menschen, die mir helfen, meine Aufgabe besser zu bewältigen, weil sie etwas von der Art der Herausforderungen verstehen, denen ich täglich ausgesetzt bin. „Worauf muss ich achten? Welche Fehler kann ich vermeiden?“ Einen Berater brauche ich auch dann, wenn ich mit meiner Zeit nicht mehr zurechtkomme, vor wichtigen Veränderungsprozessen stehe oder Dinge dazulernen muss: Kommunikative Fähigkeiten, Mitarbeitergespräche führen, Delegieren, Feedback geben, Sitzungen leiten, Ziele setzen, usw.
Wie findet man Menschen, die priesterlich begleiten und beraten? Indem man sie beharrlich sucht! Indem man Menschen Fragen stellt. Sie um einen Termin bittet. Um regelmäßige Treffen. Und nicht aufgibt, bis man welche gefunden hat, die dazu bereit sind. Ein Leiter muss sich darum bemühen, denn solche Menschen fallen uns nicht in den Schoss.
Meine Gedanken kehren zurück zu Philipp, Peter und Bruno, von deren Scheitern ich im ersten Teil von „Leiten mit Integrität“ geschrieben habe. Ich frage mich, wie es ihnen heute geht. Ich hoffe und bete von ganzem Herzen, dass sie von Menschen umgeben sind, die ihnen voller Barmherzigkeit und Gnade begegnen. Die sie aber auch herausfordern, den Dingen, über die sie gestolpert sind, auf den Grund zu gehen. Ich wünsche ihnen, dass ihre Schmerzen, ihre Enttäuschung und ihre Zerbrochenheit etwas Neues, etwas Gutes aus ihrem Herzen hervorbrechen lassen. Ich wünsche ihnen, dass sie Gnade erfahren und von Gott neue Verantwortung anvertraut bekommen. Irgendwo. Irgendwann. Und dass in ihrem Leben eine neue Stärke, Glaubwürdigkeit und Vollmacht heranwächst, damit sie Leiter mit Integrität werden. Das wünsche ich auch Ihnen – und mir selbst.
Alle Teile der Reihe und weitere Beiträge zum Themenkomplex sind hier zusammengestellt.Teil 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6
Weitere Beiträge von Thomas Härry sind in AUFATMEN zu finden!