„Die große Mehrheit der Leiter (ich neige zu sagen: alle Leiter) ist genauso schnell verunsichert und hat genauso viel Angst zu versagen, wie alle anderen Menschen auch.“
„Ich bin überzeugt: Es gibt emotionale Bedürfnisse für Leiter, die weder Erfolg, noch Mitarbeiter, selbst nicht Kinder und Ehepartner stillen können. Auch Gott stillt sie nicht. Sie werden durch Freunde des gleichen Geschlechts gestillt, denen ich mich anvertrauen kann.“
Schreibt unser „Sommerblogger“ THOMAS HÄRRY, seines Zeichens Bestsellerautor, Redakteur bei Aufatmen und Dozent am TDS Aarau. Von Führungskräften wird erwartet, dass sie sicher auftreten. Aber was steckt hinter der Fassade? Hören wir bei Thomas weiter rein …
Verunsicherung: Wer bin ich eigentlich?
Zur DNA gefährdeter Leiter gehört, dass auch sie Menschen mit tief gehenden inneren Unsicherheiten und Identitätsmankos sind – wie wir alle. Die meisten aber werden als starke, sichere, gefestigte Persönlichkeiten wahrgenommen. Das erklärt sich aus ihrer Rolle und aus ihrer Persönlichkeitsstruktur. Viele Leiter sind initiativ, treffen leicht Entscheidungen, gehen vorwärts, kommunizieren Ziele und Überzeugungen und können begeistern. Angeborene und erlernte Führungsqualitäten kommen zusammen. Hinter dem starken Leiterbild aber verbirgt sich dennoch viel Unsicherheit, Verletzlichkeit, Angst und fehlender Selbstwert.
Mehr Leiter haben schlaflose Nächte, als die meisten Nicht-Leiter es ahnen. Mehr reagieren sensibel und gekränkt auf Kritik. Die große Mehrheit der Leiter (ich neige zu sagen: alle Leiter) ist genauso schnell verunsichert und hat genauso viel Angst zu versagen, wie alle anderen Menschen auch. Es ist die Rolle und die Persönlichkeit des Leiters, die uns den Eindruck gibt, bei ihm sei alles anders und er verfüge über eine besonders dicke Haut, auf die man ruhig kräftig einschlagen könne.
Wenn ein Leiter sich angewöhnt, seine schwachen Seite, seine Ängste und seine Unsicherheit nicht nur vor seinen Mitmenschen, sondern auch vor sich selbst zu verstecken, dann begibt er sich in Gefahr. Wer sich seinen Ängsten nicht stellt, wer nicht hinter die Fassade seiner Motive schaut, wer sich nie darüber Gedanken macht, weshalb er verunsichert, verärgert oder verletzt ist, der wird diese Mängel zu kompensieren versuchen.
Kompensation ist immer ein Anlauf, die Augen vor der Realität zu verschließen und sich zu weigern, sein Leben zu ordnen und seine Wunden heilen zu lassen. Bei Leitern sieht diese Kompensation oft so aus, dass sie noch kräftiger auftreten, noch schärfer formulieren, noch mehr von den Menschen fordern und in Konflikten noch verbissener um ihren Standpunkt kämpfen. Manchmal bis zum bitteren Ende …
In vielen Fällen hat auch der Hang von Leitern (und Männern allgemein) zu heimlichen Sexabenteuern, zur Pornosucht am Bildschirm und zum Abtauchen in erotischen Phantasiegeschichten hier seine Wurzeln. Ungestillte seelische Bedürfnisse gepaart mit einer gehörigen Portion Leiterstress treiben uns leicht auf die Spielwiese der schnellen, verlockenden erotischen Kicks, bei denen wir uns Trost und Entspannung holen.
Keine Freunde
Erschreckend viele Leiter haben keine Freunde. Leiter ohne Freunde aber sind besonders gefährdet. Es ist die Rolle des Leiters, die ihn einsam werden lässt. Oder besser gesagt: Es ist die Rolle des Leiters, die ihn dazu verleitet, sich zu isolieren. Nach außen hin müssen Leiter oft Stärke zeigen, unangenehme Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, Probleme lösen. Wir haben gesehen: Die meisten Leiter tun das nicht, ohne dass sie dabei von Ängsten, Unsicherheiten und Selbstzweifel begleitet sind.
Es ist nicht immer gut, wenn alle, die ich zu führen habe, um diese Gefühle in mir wissen. Es ist aber immer schlecht, wenn es keine Menschen gibt, die darum wissen. Nun neigen Leiter dazu, genau das auch den Menschen gegenüber zu verschweigen, die ihnen eigentlich nahe stehen. Aber ein Leiter braucht eine Handvoll Menschen, denen gegenüber er sein Herz ausschütten will. Ich schreibe bewusst „will“ und nicht „kann“. Denn ob ein Leiter Freunde hat, dass entscheidet er selbst. Kein Leiter ist das Opfer seiner Umstände, wenn er keine vertrauensvollen Freundschaften erlebt. Wenn es dennoch so ist, dann hat er selber sein Leben so gestaltet – aus welchen Gründen auch immer.
Ich habe selber einige Jahre als „freundloser“ (oft auch freudloser) Leiter gelebt. Es war Karin, meine Frau, die mir bewusst machte, dass die Beziehungen in meinem Leben, die ich als „Freundschaften“ bezeichneten, nicht viel mehr waren als gute Beziehungen zu Menschen, mit denen zusammen ich mich im Reich Gottes engagierte. Kaum wechselte jemand aus meinem „Freundeskreis“ seinen Wohnort oder seine Arbeitsstelle, verloren wir uns aus den Augen – von unserer Beziehung blieb nichts weiter übrig als eine schöne Erinnerung.
Freundschaften sind ehrliche Beziehungen. Dort bringe ich zur Sprache, was mich bewegt, schmerzt, begeistert. Spreche über meine unfertigen Gedanken und meine seltsamen Gefühle. Eine Freundschaft lebt unabhängig von meinem Wohnort und meiner Arbeitsstelle. Sie überdauert die Jahre und die räumliche Distanz. Wir brauchen solche Freundschaften. Denn es sind Freunde, die als erste den Mut und die Erlaubnis haben, uns liebevoll und bestimmt auf heikle und dunkle Punkte hinzuweisen. Genau das ist wohl der Grund, weshalb viele Leiter keine Freunde haben. Denn genau das wollen sie vermeiden. Damit riskieren sie, dass ihre Gefährdungen, die sie wie jede andere Person auch mit sich herumtragen, zu unentschärften Bomben werden, die eines Tages das Ende ihres Dienstes herbeiführen könnten.
Freundschaften sind aber auch deswegen unverzichtbar: Der Alltag eines Leiters ist von schwierigen emotionalen Momenten geprägt. Jede Woche ist er in Konflikte verwickelt oder wird kritisiert. Ich sagte schon: Er reagiert genau so empfindlich wie jeder andere – aber: Ein Leiter ist solchen Situationen um ein vielfaches häufiger ausgesetzt. Er muss also viel mehr als andere mit irritierten Emotionen umgehen. Das schafft auf die Dauer keiner alleine.
Natürlich: Wir müssen es lernen, mit einem verletzten und verunsicherten Herz zuerst zu Gott zu gehen. Gott ist der beste Seelenkenner und Versorger der Leitungs-Wunden. In Psalm 94,19 heißt es wörtlich: „Als viele unruhige Gedanken in mir waren, beglückten deine Liebkosungen meine Seele.“ So begegnet Gott der verletzten Seele eines Leiters: Er liebkost sie wie eine Mutter ihr geliebtes Kind.
Dennoch gilt auch, was Bonhoeffer gesagt hat. In gewissen Situationen fällt es uns schwer, uns von Gott trösten zu lassen. Dann brauchen wir den Bruder oder die Schwester, durch die Gott an uns handelt. Bonhoeffer sagt es so: „Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Wort des Bruders; jener ist ungewiss, dieser ist gewiss.“ (Dietrich Bonhoeffer, „Gemeinsames Leben“)
Ich bin überzeugt: Es gibt emotionale Bedürfnisse für Leiter, die weder Erfolg, noch Mitarbeiter, selbst nicht Kinder und Ehepartner stillen können. Auch Gott stillt sie nicht. Sie werden durch Freunde des gleichen Geschlechts gestillt, denen ich mich anvertrauen kann. Der jüdische Weisheitslehrer Jesus Sirach bemerkte: „Ein zuverlässiger Freund ist wie ein sicherer Zufluchtsort. Wer einen solchen Freund gefunden hat, der hat einen wahren Schatz gefunden. Er ist nicht zu bezahlen und mit nichts aufzuwiegen.“ (Sirach 6,14-15). Leiter ohne Freunde sind gefährdet.
Im dritten Teil der Reihe widmet sich Thomas den „Unaufgearbeiteten Familiengeschichten“.Teil 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6
Weitere Beiträge von Thomas Härry sind in AUFATMEN zu finden!
Hallo Lothar, ich finde es hammermässig, dass Thomas Härry dein gastblogger ist. Vielen Dank für die tollen Beiträge Thomas!
Ich bin auch total begeistert darüber, dass wir mit dem Leiterforum diese tollen Impulse von Thomas verbreiten können. Jeder dient als treuer Haushalter mit der Gabe, die er bekommen hat. So kommt für alle das Beste zustande. …