Menschen mit Format | 9 | Leiter im Hamsterrad

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Das Hamsterrad ist zum Symbol eines Lebensgefühls geworden. „Man plagt sich Tag für Tag ab, fühlt sich immer atemloser und spürt dann irgendwann entgeistert, dass man sich im Kreis gedreht hat. Die gesamte Gesellschaft und nicht nur der Einzelne ist in den letzten Jahren in einen Zustand überdrehter Erstarrung geraten“, schreibt der Psychologe Stephan Grünewald in seinem Buch „Deutschland auf der Coach.“ „Das Gefühl, bei hoher Drehzahl stillgelegt zu sein“, beschleicht dabei in besonderer Weise die Leistungs- und Verantwortungsträger.[1] Ständige Erreichbarkeit war ein Markenzeichen der traditionellen Pastorenrolle.

Pastoren im Hamsterrad?

Heute ist es ein Stück Zeitgeist. Doch für Menschen im geistlichen Dienst kommen noch Ansprüche und „Antreiber“ besonderer Art hinzu: Pfarrer und Pastoren sollen zugewandt und zugänglich sein und in unterschiedlichsten Situationen ein offenes Ohr haben. Sie sollen vollmächtig predigen, professionell leiten und in all dem „Menschen zum Anfassen“ sein. In dem Maß, wie Gemeinden unselbstständig und geistlich unmündig sind, erhöht sich der Druck auf den Einen, möglichst alle zufriedenzustellen. Von bezahlten Gemeindeleitern erwartet man, dass sie nicht nur ihre Kirche oder ihren Verband vertreten, sondern ihren Beruf als innere Berufung ausüben. Pfarrer und Pastoren haben gleichsam mehrere Instanzen über sich: Sie wollen Gott dienen, müssen ihrer Kirche entsprechen und wollen natürlich auch bei den Menschen gut ankommen. Was kommt hier „zuerst“? Was bedeutet es in diesem Spannungsfeld „Ja, ja!“ und/oder „Nein, nein!“ zu sagen?

Zentrale Fragen für geistliche Leiter

  • Diene ich den Menschen geistlich – oder bin ich im Tiefsten von ihnen abhängig?
  • Folge ich konsequent einer Vision – oder erfülle ich letztlich nur die Ansprüche anderer?
  • Lebe ich motiviert von der Hingabe an Gott – oder bediene ich ein Gemeindeprogramm?
  • Leite ich mit innerer Vollmacht – oder treiben mich die Umstände vor sich her?

Immer wieder höre ich in Gesprächen, wie Leiter hier einen typischen Schwachpunkt empfinden: „Ich kann so schwer Nein sagen. Ich kann mich so schlecht abgrenzen.“ Einige Pastoren können tatsächlich aufgehen in Begegnungen mit Menschen, wobei ihnen die Zeit schnell unter den Fingern zerrinnt. Andere dagegen neigen von ihrem Naturell her zum Rückzug, lieben mehr die Bücher und igeln sich ein. Wieder andere bauen durch ihr Amt eine Schutzmauer um sich oder pflegen das Image der „chronischen Überlastung“.

„Stress im Talar“

lautet der Titel einer Untersuchung, die ein Klinikseelsorger der Bayerischen Landeskirche vor einigen Jahren unter Kollegen durchführte. „Für fast die Hälfte der befragten Pfarrer besteht demnach zumindest das Risiko, ein Burnout-Syndrom zu erleiden“, bilanziert Andreas von Heyl. Eine der Ursachen sieht er darin, „dass man ein unendlich vielfältiges Arbeitsfeld hat, in dem man den ganzen Tag in den verschiedensten Rollen tätig sein muss und kaum Resonanz bekommt.“[2] Wenn die Hirten zu schnell laufen, wenn sie das Ziel aus den Augen verlieren, wenn sie sich womöglich im Kreis drehen, wie soll die Herde dann geführt werden? „Ich will euch Hirten nach meinem Herzen geben, die sollen euch weiden mit Erkenntnis und Einsicht“, verspricht Gott (Jer 3,15 | Sch).

Leben gestalten heißt Prioritäten setzen

Jeder von uns muss Tag für Tag seine Prioritäten setzen, egal in welchem Beruf oder in welcher Lebensphase. Vieles entscheiden wir spontan und so schnell, dass wir darüber kaum in Ruhe nachdenken können. Andere Entscheidungen tragen wir länger mit uns herum, machen uns Sorgen und müssen sorgfältig abwägen. Sie bestimmen unsere Gedankenwelt, wir führen darüber Gespräche, die Fragen treiben uns ins Gebet. Wenn unsere Gedanken sich zu ordnen beginnen, können wir sie schriftlich formulieren. Für viele Menschen ist es sehr hilfreich, ihr Leben mit seinen verschiedenen Lebens- und Aufgabenbereichen zu Papier zu bringen und dabei Prioritäten zu setzen. Dies wird sich an verschiedenen „Schnittstellen“ unseres Lebens immer wieder anbieten:

Welche Lebensfragen stellst du dir zurzeit?

  • Welchen Beruf will ich ergreifen? Welcher Ausbildungsweg passt zu mir?
  • Wo und wie könnte ich mich weiterentwickeln: in Hobby, Sport, Ehrenamt usw.?
  • Wie stelle ich mir meinen späteren Partner vor? Welches Bild von Familie strebe ich an?
  • Wie können wir unsere Kinder optimal fördern? Wie und wo sollen sie aufwachsen?
  • Welche Aufgaben in meiner Gemeinde sind für mich passend? Wo liegen meine Gaben?
  • Welche Beziehungen sind mir wichtig und wodurch kann ich sie ausbauen?
  • Welche finanziellen Herausforderungen liegen vor mir? Wie will ich mein Geld einteilen?

Die innere Mitte unseres Lebens

„Zuerst nach dem Reich Gottes trachten“ bedeutet im Blick auf all diese Fragen nun nicht, dass die „geistlichen“ Aktivitäten in unserem Leben wichtiger wären als die „weltlichen“ Aspekte. Gott kommt nicht dadurch zur „Herrschaft“ (das ist mit „Reich Gottes“ gemeint), dass wir möglichst viel für ihn tun, sondern dass wir ihn Herr sein lassen über alle Bereiche unseres Lebens. Gott macht keinen Unterschied zwischen Sonntag und Alltag. Unser Engagement in der Gemeinde steht bei ihm nicht höher als die Präsenz in der Familie. Die Beziehungen im Hauskreis sind nicht automatisch „geistlicher“ als Begegnungen mit Arbeitskollegen, Freunden oder Nachbarn. „Reich Gottes“ kann sich auf einem Elternabend in der Schule ebenso ereignen wie beim Glaubenskurs, mittags in der Kantine ebenso wie im Kirchen-Café. „Gott möchte uns zu kreativen, aktiven Partnern machen, die über seine Erde genau da Verantwortung übernehmen, wo sie gerade sind. Und dafür will er uns seine Autorität und Weisheit geben“, schreibt Keith Warrington in seinem Buch über „Das Reich Gottes.“[3] Alles gehört unter die gute Herrschaft Christi. „Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.“ In Christus „hat alles Bestand.“ (Kol 1,16-17) Prioritäten setzen bedeutet deshalb für mich als Christ: Ich gehe Tag für Tag meine Lebensbereiche mit Gott durch und stelle die Frage: „Herr, wo willst du mich heute haben? Was soll ich tun und lassen? Wen stellst du mir in den Weg, für den ich ein Segen sein kann? Wo möchtest du zu mir reden? Was hast du heute für mich vorbereitet?“

Wie soll ein geistlicher Leiter sein Leben gewichten?

Dies ist mein innerer Kompass für den aktuellen Tag. Darüber hinaus muss ich immer wieder Zeit nehmen, um mich grundsätzlicheren Fragen zu stellen. Es ist ein Lernprozess zu verstehen, wie ich mein Leben von Gott her gestalten kann. Paulus ermutigte seine Gemeinden, sie sollten „abwägen, was dem Herrn gefällt“ (Eph 5,10). Im Blick auf Gottes Willen verwendet er ein griechisches Wort, das eigentlich vom Handel auf dem Markt stammt: dokimazein bedeutet, eine Münze zu „gewichten“ bzw. ihren Wert „einzuschätzen“ … „damit ihr prüfen könnt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist.“ (Röm 12,2 | Sch) Wenn wir konsequent nach Gottes guten Gedanken über unserem Leben fragen, werden wir innerlich zur Ruhe kommen.

Unerfüllbare Ansprüche ablehnen!

Keiner von uns muss sich an anderen messen, ein Pensum für zwei erledigen oder unerfüllbaren Ansprüchen nachjagen. Mir gefällt eine Formulierung in den Psalmen, die Gott ursprünglich Jerusalem zugesagt hat: „Er hat die Riegel deiner Tore festgemacht. … Er verschafft deinen Grenzen Frieden.“ Und „Gott ist in ihrer Mitte, darum wird sie niemals wanken.“ (Ps 147,13-14; 46,6 | EÜ) In diesem Bild gleicht unser Leben einer Stadt: Wenn Jesus im Zentrum steht, werden wir auch zu unserer eigenen Mitte finden. Wir können zu unseren Grenzen stehen und kommen dadurch zum Frieden. Wir werden sicherlich noch manche Grenzerweiterung erleben, die wir uns selbst nicht zugetraut hätten. Wir bleiben offen und leben dennoch fokussiert. Wenn wir lernen, die richtigen Prioritäten zu setzen, werden wir auch Gottes Beistand, seine Bestätigung und seine Bewahrung erleben:

  • Ich muss nicht mehr leisten, als in einen Tag hineinpasst!
  • Ich lasse mich nicht treiben, denn Stress erhöht niemals die Leistungsfähigkeit!
  • Ich kann und muss nicht sämtliche Erwartung anderer Menschen erfüllen!
  • Ich darf zu meinen Grenzen stehen: geistig, seelisch, körperlich!
  • Ich darf ruhen und muss nicht immer effektiv sein – denn auch Gott ruhte (1.Mose 2,2)!
  • Ich brauche mich nicht zu verzetteln: Schritt für Schritt werde ich meine Ziele erreichen!
[1]     Stephan Grünewald, Deutschland auf der Couch, Frankfurt/Main (22007), S. 7, 15
[2]     Andreas von Heyl, Habilitationsschrift an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, zitiert nach einem Artikel im Stern, 6.5.2003
[3]        Keith Warrington, Das Reich Gottes – Die Vision wiedergewinnen, Lüdenscheid (2011), S. 173
Titelfoto: (c) Lothar Krauss
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Swen Schönheit
Swen Schönheit ist seit 1989 Pfarrer an der Apostel-Petrus-Gemeinde im Märkischen Viertel in Berlin. Als Gründungsmitglied des Netzwerks „Gemeinsam für Berlin“ engagiert er sich seit vielen Jahren für die Einheit der Christen in der Stadt und die Förderung jüngerer Leiter. Seit November 2012 ist Swen Schönheit mit einer viertel Pfarrstelle bei der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung Deutschland als theologischer Referent tätig. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Buchcover
Menschen mit Format, Leiten lernen von Jesus, Swen Schönheit, Asaph-Verlag, 320 S., € 17,95 | eBook: € 14,95
Die Kurzrezi zu “Menschen mit Format” auf dem Leiterblog gibt es hier.

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Über Lothar Krauss

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