Die interkulturelle Realität ist in unserem Alltag zunehmend deutlich zu sehen. Immer mehr unserer Nachbarn, Kollegen, Bekannten haben eine andere kulturelle Herkunft. Aber auch in der Politik und der Wirtschaft zeichnet sich ein neues Bild. Und die Freikirche, zu der ich gehöre, ist ebenfalls sehr davon geprägt. Mehr als ein Drittel aller BFP-Gemeinden sind anderer Sprache und Herkunft. Im Umgang miteinander stößt man schnell auf Unsicherheit und Befremden. Wie funktioniert also eine Kollektivkultur? Was sollte eine Führungskraft dazu wissen? Dr. Eberhard Mühlan reflektiert im vierten Teil der Reihe diese Fragestellung für Verantwortliche:
Eine Herausforderung …
Oft fällt es schwer mit den kulturellen Unterschieden umzugehen, und dennoch gilt es, gemeinsam Reich Gottes zu bauen. Es gilt die interkulturellen Synergien zu entdecken und auszuschöpfen (siehe Teil 3). Um das zu erreichen, benötigt man ein Grundverständnis für das Phänomen Kultur und muss man sich intensiv mit den unterschiedlichen kulturellen Identitäten befassen.
Die „Kulturzwiebel“
Kulturelle Identität lässt sich anschaulich anhand einer „Kulturzwiebel“[1] darstellen. Bei einer Zwiebel kann man eine Schicht nach der anderen abschälen und so mehr und mehr in das Innere vorstoßen. Außen liegen die sichtbaren Merkmale: Kleidung, Hautfarbe und das Verhalten wie z.B. die Art der Begrüßung. Das sind jedoch nur die äußeren, sichtbaren Merkmale, darunter liegen die erlernten Normen und Werte, die Überzeugungen und der Glaube, den man aus seiner Ursprungskultur mitgebracht hat. Und im Innersten verborgen liegt das Weltbild, die Art, wie die Welt grundsätzlich wahrgenommen wird.
Im letzten Beitrag haben wir die typischen Merkmale eines individualistischen Kulturmuster anhand von Deutschland erarbeitet (siehe Teil 3). Jetzt geht es um die charakteristischen Merkmale von Kollektivkulturen.
Kollektivistische Kulturmuster
Bei den traditionellen Kulturen in den Weiten Osteuropas, in Asien, Afrika und Lateinamerika muss man bei dem Weltbild statt Individualismus den Begriff „Kollektivismus“ einsetzen. Fragt man nach den Wurzeln dieses Weltbildes, dann ist es das größere Wir-Denken, das sich vor allem im starken Einfluss und Zusammenhalt des Familienclans zeigt. Der ist den Ich-Gesellschaften einfach verloren gegangen. Es ist für mich inzwischen erschreckend zu sehen, wie bei uns Familienangehörige oftmals distanziert und unverbindlich nebeneinander her leben, wie Ehen zerbrechen und Alleinerziehende manchmal nahezu verzweifelt ihren Alltag auf sich selbst gestellt meistern müssen. Das sind die Nachteile einer Ich-Kultur, während in einer Wir-Kultur Fürsorge und Zusammenhalt der einzelnen Familienmitglieder vielfach nach wie vor gegeben ist. Aus individualistischer Perspektive betrachtet birgt dieses vernetzte Miteinander natürlich auch Nachteile wie stärkere Bevormundung, Rücksicht auf Kollektiventscheidungen und das Teilen der finanziellen Ressourcen. Das kann auch einengend wirken.
Christlicher Glaube in Wir- und Ich-Kulturen
Bei Überzeugungen/Religion muss man genau hinschauen, welche religiösen Wurzeln in der betreffenden Kultur vorliegen und welche Religion aktuell dominiert. Vielfach liegt ein Synkretismus vor, das heißt eine Vermischung von Religionen.
Auch wenn sich Menschen modern geben oder zum Christentum konvertiert sind, in kollektivistischen Kulturen liegt vielfach eine größere Ahnenverehrung und ein stärkerer Glaube an gute und böse Geister vor als in Individualkulturen. Die Verstorbenen sind einfach gegenwärtig und beeinflussen zum Guten oder Bösen, und ihnen muss Respekt und Verehrung gebracht werden. Und selbst wenn jemand als Christ in so einer Kultur aufwächst, muss er sich Gedanken machen, inwieweit er von den religiösen Wurzeln seiner Kultur beeinflusst ist. Eine buddhistische, animistische oder islamische Kultur wird ihren spezifischen Einfluss auf das Leben eines Christen haben. Christlicher Glaube in Kollektivkulturen und Individualkulturen sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Es kann sehr interessant werden, wenn sich Christen aus unterschiedlichen Kulturen über Ihre religiösen Wurzeln und die Ausprägungen Ihres christlichen Glaubens unterhalten. Da wird es einiges zu entdecken geben, und ein christlicher Leiter muss darüber Bescheid wissen.
Harmonie, Respekt, Seniorität
Schauen wir uns die Normen und Werte in kollektivistischen Gesellschaften an, dann kann man nahezu übereinstimmend die folgenden drei nennen: Harmonie, Respekt, Seniorität. Ein Schwerpunkt der Erziehung liegt stets auf Respekt vor Autoritäten und älteren Menschen und auf „Gesicht geben“ und „Gesicht bewahren“. Anpassung und den Kontext-Erfassen gehören zu hohen Werten.
Das kann man dann an der äußersten Schale, an den sichtbaren Merkmalen, gut beobachten. Zu denen gehören Konfliktvermeidung, Konsensfindung, Gelassenheit, Sanftmut, Höflichkeit, Bescheidenheit und Einfühlsamkeit. Das sind wiederum positiv formulierte Begriffe, die alle auch eine negative Seite aufweisen können. Die Haltung der Konfliktvermeidung kann es einem Deutschen, der gewohnt ist, Konflikte unverblümt und direkt anzusprechen, schon schwer machen: „Was meint der andere wirklich? Kann er nicht einmal sagen, was er will? Muss ich immer herumrätseln?“
Konsensfindung hat seine positive Seite in größerer Flexibilität und im
Improvisationstalent, kann aber auch als Unschlüssigkeit und Nachgiebigkeit empfunden werden. Die häufig zu beobachtende Gelassenheit begründet sich in dem zyklischen Zeitverständnis und einer größeren Akzeptanz des Schicksals. Man lebt halt stärker in der Gegenwart. Sie kann aber einen disziplinierten, pünktlichen Deutschen gewaltig nerven. Sanftmut und Höflichkeit wirken auf den Außenstehenden zunächst einmal sehr angenehm, sind jedoch manchmal lediglich die äußere Schale. Darunter kann es durchaus gewaltig brodeln.
Die eigene „kulturelle Brille“
Jeder trägt seine eigene „kulturelle Brille“, mit der er die Umwelt wahrnimmt und andere Menschen beurteilt bzw. verurteilt. Um einen Menschen aus einer fremden Kultur verstehen zu können, muss man sich sowohl mit den Ausdrucksformen der fremden Kultur wie auch mit den Wurzeln und Ausdrucksformen seiner eigenen Kultur befassen. Oftmals ist es so, dass man sich erst mit den Wurzeln seiner eigenen Kultur befasst, wenn man mit einer anderen Kultur konfrontiert wird. So geht es vor allem bikulturellen Paaren, aber auch Mitarbeiter eines interkulturellen Teams. Ich selbst habe erst so richtig wahrgenommen, wie stark ich von Autonomie und Individualismus geprägt bin, als ich mich mit anderen kulturellen Mustern befasst habe.
Genau das ist die Absicht dieses und des vorlaufenden Artikels: Seine eigene kulturelle Identität mit ihren Vor- und Nachteilen zu erkennen und andere kulturelle Identitäten tolerieren und schätzen zu lernen.
Impulse für Führungskräfte:
- Wie schätzt du den Blickwinkel deiner eigenen „kulturellen Brille“ ein? Was siehst du zu rosarot oder verzerrt? Wie kommst du zu einer gesunden Wahrnehmung?
Und noch einmal die Fragen von Teil 3:
- Wie kannst du Synergien fördern: Welche besonderen Fähigkeiten weisen die Mitarbeiter aus anderen Kulturen im Vergleich zu deinen deutschen Mitarbeitern auf?
Nimm dir vor, deine interkulturellen Mitarbeiter besser kennen und verstehen zu lernen. Bewahre dir dabei eine Grundhaltung der „respektvollen Neugier“.
[1] In Anlehnung an Kwast in Winter & Hawthorne (1981:361ff).
CD SEMINAR: Interkulturelle Kompetenz
Einige Leser können die Inhalte dieser Serie sicher über ein Audio-Seminar besser aufnehmen. Zum Beispiel während ihrer Fahrten mit der Bahn oder dem PKW. Deshalb nun ergänzend zu der Serie auf dem Blog dieser Tipp für Audio-Freunde unter den Lesern:
Menschen aus anderen Kulturen besser verstehen.
Dr. Eberhard & Claudia Mühlan
In der Nachbarschaft, im Berufsleben und in der christlichen Gemeinde leben und arbeiten zunehmend Menschen aus verschiedenen Kulturen miteinander. Auch finden sich immer mehr bikulturelle Paare. Die Flüchtlingsströme, die zurzeit nach Deutschland kommen, machen das Thema aktueller denn ja zuvor.
Das Seminar im Detail:
- Aufwachsen und Leben in Individual- und Kollektivkulturen.
- Verstehen, wie der andere denkt und was er sagt. Direkte versus indirekte Kommunikation.
- Unterschiedliche Weltbilder und Wertemuster, Verhalten und Auftreten.
- Religionen im Vergleich.
- Übungen zur interkulturellen Kompetenz.
Ziel dieses Seminars ist, die interkulturelle Kompetenz zu stärken: Menschen aus einer anderen Kultur besser verstehen zu können und die eigene kulturelle Identität klarer zu begreifen.
www.MühlanMedien.de CD-Album 5500 (3 CDs für € 12,-)
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