Zuerst sind es naturgemäß unsere Eltern, die uns Geborgenheit vermitteln, Bedeutung verleihen und uns in unserer Identität formen. „Du bist es [mein Schöpfer], … der mir Vertrauen einflößte an meiner Mutter Brüsten.“ (Ps 22,10 | EB) Selbstvertrauen kann in unserem Leben in dem Maß wachsen, wie wir Urvertrauen entwickeln konnten in der Geborgenheit eines liebevollen Elternhauses. Gott hat Vater und Mutter eine Schlüsselstellung gegeben, um Sicherheit in unser Herz hineinzulegen:
- Bin ich gewollt? Gehöre ich dazu?
- Bin ich fähig, klug, stark, schön?
- Bin ich einzigartig?
- Bin ich geliebt? Und akzeptiert – wie mein Leben auch verlaufen wird?
Vielleicht waren es ja auch andere Menschen, die uns stärker prägten als unsere Eltern oder eine Art Ersatzrolle übernahmen: Großeltern oder große Geschwister, Erzieher oder Lehrer, Priester und Pastoren … Später kommen Freundeskreis, Clique, Verein oder Firma hinzu, die identitätsbildend auf uns einwirken. Unser Bild von uns selbst ist meistens wie ein Patchwork aus verschiedenen „Zutaten“, die uns Bedeutung und Besonderheit verleihen. Neben allen Einflüssen von außen sind es letztlich wir selbst, die am Bild unseres „Ich“ arbeiten. Deshalb definieren wir uns meisten über bestimmte Aspekte unserer Identität, zum Beispiel über …
- Unser Geschlecht (inkl. sexuelle Orientierung, Familienstand)
- Unsere Generation (inkl. Kleidung, Labels, Musikrichtung, Essgewohnheiten)
- Unsere Gesundheit (Leistungsfähigkeit, Sportlichkeit, Behinderung)
- Unsere nationale Herkunft (Nation, Region, Religion)
- Unser sozialer Status (Elternhaus, Schule, Wohnbezirk)
- Unsere Ausbildung, unser Beruf (inkl. Verdienst)
- Unsere Kultur (Hobby, Freizeit, Kunst, Gesellschaft)
… und das Streben nach Besonderheit
Wir können überall beobachten, wie Menschen einzelne dieser Aspekte besonders herausstellen und ihre Identität damit verknüpfen. Mancher definiert sich bewusst durch sein Anderssein, mancher notgedrungen über sein Schicksal, andere durch ihre Gruppenzugehörigkeit. So werden bestimmte Merkmale unseres Menschseins irgendwann zum Maß aller Dinge. Leider gelingt es uns Menschen selten, die eigene Identität ohne Abgrenzung von anderen zu beschreiben. Deshalb sind unsere Gesellschaften so zerrissen vom Kampf der Geschlechter, der Kulturen, der Konfessionen und Religionen, der Parteien und Interessengruppen. Jeder hungert nach Identität und Besonderheit, nach guten Gründen für sein „So-und-nicht-anders-Sein“. Und doch geben uns äußere Unterscheidungsmerkmale auf Dauer keine Sicherheit. Wer sagt mir, wer ich wirklich bin? Was muss geschehen, dass ich endlich im Leben ankomme, mich innerlich zu Hause fühle?
Konkurrenzkampf in der Mühle des Vergleichens …
Die Frage wird brennend, wenn um uns herum der Konkurrenzkampf ausbricht und wir in die Mühle des Vergleichsdenkens geraten. Wir müssen feststellen, dass wir Ansprüchen nicht genügen und Erwartungen nicht erfüllen, uns wird die Anerkennung versagt, und schon fühlen wir uns als ganze Person infrage gestellt! Doch jede Krise unseres Lebens ist zugleich eine Chance: eine Anfrage an das Fundament, auf dem unser Leben ruht. Wer oder was gibt mir meinen Wert? Wozu bin ich eigentlich auf dieser Welt und was will ich mit meinem Leben erreichen? Vielleicht ist es heilsam, sein Leben einmal vom Ende her zu betrachten und sich zu fragen: Wofür möchte ich über meinen Tod hinaus bekannt sein?
Dietrich Bonhoeffer (+ 1945) spricht noch heute vielen aus dem Herzen mit seinem Gedicht, das er einige Monate vor seiner Hinrichtung in der Gefängniszelle verfasste:[1]
Wer bin ich? […] Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? […] Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer? Bin ich beides zugleich?
Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? […]
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Wichtige Fragen für angehende Leiter und Leiterinnen
Weißt du, wer du bist, auch wenn die Meinungen über dich geteilt sind? Wenn du an dir selber zweifelst, dich überfordert fühlst und die Zukunft unsicher erscheint? Wie finden wir zu einer inneren Sicherheit, die alle Schwankungen des Lebens übersteht, sodass uns weder der Erfolg zu Kopfe steigt noch der Misserfolg uns niederdrückt?
Wenn Leiter innerlich unsicher sind …
- werden sie ein Verlangen nach Liebe und Anerkennung mit sich herumtragen.
- werden sie auf Leistung bauen und möglicherweise dem Ehrgeiz verfallen.
- werden sie in ihrer Identität von Erfolg oder Misserfolg abhängig sein.
- werden sie angreifbar sein für Selbstzweifel oder anfällig für Stolz.
- werden sie empfindlich auf Kritik und Korrektur reagieren und sich angegriffen fühlen.
- werden sie zu Machtmitteln greifen statt ihrem natürlichen Einfluss zu vertrauen.
- werden sie sich mit anderen vergleichen und unerreichbaren Idealen nachjagen.
- werden sie sich Rollen aneignen oder von anderen auferlegte Muster übernehmen.
Kein Luxus!
Die Frage nach dem Fundament unserer Persönlichkeit ist kein Luxus. Wenn wir leiten, werden wir im Laufe der Zeit immer sichtbarer für die Menschen um uns herum. Auch wenn wir von uns aus gar nicht „hoch hinaus“ wollen: Gott will uns bestätigen und es werden Menschen zu uns aufschauen und sich an uns orientieren. Man kann eine Zeit lang aus dem bloßen „Tun“ heraus leiten und sein wahres „Sein“ dahinter verstecken. In den meisten Bereichen unserer Gesellschaft gilt ohnehin, dass entscheidende Bereiche unseres Lebens „Privatsache“ sind und niemanden etwas angehen. Doch bei Dienern im Reich Gottes zählen das Fundament und die Wurzeln. Gott wird uns ein Leben lang nicht loslassen, bis wir durch die Liebe unseres himmlischen Vaters nach Hause gefunden haben.
Wo suchen wir unsere Anerkennung?
In seiner Betrachtung über Rembrandts Gemälde von der Heimkehr des verlorenen Sohns betont Henri J. M. Nouwen, „dass die wahre Stimme der Liebe eine sehr leise und zärtliche Stimme ist, die zu mir an den verborgensten Stellen meines Seins spricht. … Es ist eine Stimme, die nur von denen gehört werden kann, die sich berühren lassen.“[2] Leiter und Mitarbeiter können ihren Wert leicht davon ableiten, dass sie ständig beschäftigt und stets für alle da sind. Sie werden von anderen gebraucht und geliebt – und doch bleibt ihre Seele möglicherweise nicht gesättigt. Wenn wir unsere Identität in Rollen und Aufgaben suchen, hat unser Selbstwertgefühl die falsche Basis. Nouwen fragt, ob wir nicht „am falschen Ort“ gesucht, wenn unser Herz immer noch von der Suche – oder gar der Sucht – nach Anerkennung getrieben ist? „Ein bisschen Kritik ärgert mich, ein bisschen Ablehnung deprimiert mich. Ein bisschen Lob hebt meine Lebensgeister, und ein bisschen Erfolg beflügelt mich. Es gehört sehr wenig dazu, dass ich obenauf oder ganz unten bin. Oft bin ich wie ein kleines Boot auf dem Meer, völlig den Wogen ausgeliefert. Die ganze Zeit und Energie, die ich brauche, um einigermaßen das Gleichgewicht zu bewahren und nicht umzukippen und zu ertrinken, zeigen, dass mein Leben größtenteils ein Kampf ums Überleben ist: kein heiliger Kampf, sondern ein angsterfüllter Kampf. … Solange ich hin und her renne und frage: ‚Liebst du mich? Liebst du mich wirklich?’, gebe ich alle Macht den Stimmen der Welt und mache mich zum Sklaven, denn die Welt ist voller Wenn und Aber. … Es ist eine Welt, die süchtig macht, weil das, was sie bietet, das tiefste Suchen meines Herzens nicht stillen kann.“[3]
Im tiefsten liegt unsere Identität darin …
… dass Gott zu uns steht: „Ich bin mit dir!“ Das ist mehr als jede Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“, die immer mit dem Feedback anderer Menschen zu tun hat. Gottes unvergleichliche Wertschätzung für unser Leben stammt nicht aus der Welt um uns herum, sie wird durch den „Geist der Kindschaft“ in unsere Herzen gehaucht:
- Er war immer dein liebender Vater! Er hat dein ganzes Leben bisher begleitet!
- Er liest in deiner Vorgeschichte wie in einem offenen Buch! Er weiß um dich!
- Er glaubt an dich! Sein guter Weg mit dir ist noch lange nicht zu Ende!
- Er hat in seinem Plan einen Platz für dich! Er braucht dich in einzigartiger Weise!
- Er wird dich im Tiefsten niemals überfordern! Er kennt dein Maß!
[1] Verfasst im Gefängnis Berlin-Tegel (Sommer 1944). Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung von Dietrich Bonhoeffer, München (101978), S. 179
[2] Henri J. M. Nouwen, Nimm sein Bild in dein Herz, Freiburg / Basel / Wien (1997), S. 54
[3] Ebendort, S. 56-57
Titelfoto: (c) Lothar Krauss
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Swen Schönheit ist seit 1989 Pfarrer an der Apostel-Petrus-Gemeinde im Märkischen Viertel in Berlin. Als Gründungsmitglied des Netzwerks „Gemeinsam für Berlin“ engagiert er sich seit vielen Jahren für die Einheit der Christen in der Stadt und die Förderung jüngerer Leiter. Seit November 2012 ist Swen Schönheit mit einer viertel Pfarrstelle bei der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung Deutschland als theologischer Referent tätig. Er ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Menschen mit Format, Leiten lernen von Jesus, Swen Schönheit, Asaph-Verlag, 320 S., € 17,95 | eBook: € 14,95
Die Kurzrezi zu „Menschen mit Format“ auf dem Leiterblog gibt es hier.
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